„Die Geschwister“! Zweiter Akt, sechs Jahrzehnte später.

„Die Geschwister“! Zweiter Akt, sechs Jahrzehnte später.

Am 13. August 1961 wurde die Mauer in Berlin und entlang der bis dahin ebenfalls durchlässigen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten gebaut. Das war ein Sonntag.  Für die meisten Menschen in Ost und West war es der schwarze Freitag: Ein Schicksalsdatum, für mindestens zwei Generationen lebensbestimmend.

Die Sicht der DDR-Oberen auf den Mauerbau war naturgemäß ein ganz anderer: Die hermetische Trennung zweier Staaten, aber eines Volkes sei angesichts der ökonomischen Ausplünderung durch den Westen, von Sabotageakten durch die dortigen Dienste und ideologischer Diversion und Infiltration die „Ultima ratio“ gewesen. Jetzt könne endlich ungestört und unbedroht das bessere Deutschland aufgebaut werden. Das Schicksal Einzelner müsse sich durch die gewaltige historische Dimension relativieren.

Dass in einem diktatorischen Staatswesen diese verzerrte Sicht der Partei (verzerrt deshalb, weil die isolierte und damit unzulässige Bewertung des damaligen Status quo auf die rein ökonomische Dimension der historischen-politischen Komplexität des Vorgangs nicht einmal ansatzweise gerecht wird) sofort zur Doktrin wurde, liegt auf der Hand.

Gerade deshalb ist es bis heute kaum erklärbar, dass ungeachtet von Dogmen und Meinungsdiktat im offiziellen Kulturbetrieb zwei große Werke entstanden, die allein schon wegen ihrer literarischen Qualität auch im Jahr 2023 gültig sind. Dieses Gewicht hat noch einen zweiten Grund: Erzählt werden wahre Geschichten über Einzelschicksale, die mit dem Mauerbau und Ereignissen davor und danach verwoben waren. Die Protogonisten sind keine Außenseiter, sondern Menschen aus der Mitte der realsozialistischen Gesellschaft.

„Nur“ zwei Erzählungen? Dass es überhaupt zwei sind, das ist das Bemerkenswerte! Und wieviel sie wiederum auch miteinander zu tun haben, das darf ich ohne Übertreibung atemberaubend nennen. Und bei dieser Gelegenheit hinzufügen, dass mir diese Verknüpfung erst jetzt so richtig bewusst geworden ist.

Nun aber der Reihe nach. Im Jahr 1963, also dem Jahr Zwei nach dem Mauerbau, erschienen in der DDR diese beiden einzigen Bücher von Rang, die im direkten Kontext mit dem 13. August 1961 gelesen werden müssen. Das ist zum einen „Der geteilte Himmel“ aus der Feder von Christa Wolf in der Erstausgabe des Mitteldeutschen Verlages in Halle / Saale. Der andere Text, „Die Geschwister“, stammt von Brigitte Reimann und wurde im Aufbau Verlag Berlin verlegt.

Beide Erzählungen spielen vor dem Bau der Mauer. Der von Christa Wolf ganz kurz davor, im Juni 1961, der von Brigitte Reimann im Jahre 1960. Die Protagonisten sind in Liebe verbundene Menschen. Bei Wolf sind es Rita und Manfred, sie ist 19, studiert an einem Institut für Lehrerbildung, er ist Chemiker. Sie gehen vor dem 13. August in den Westen. Manfred bleibt dort, Rita kehrt in die DDR zurück.

Bei Brigitte Reimann ist es ein Geschwisterpaar. Elisabeth, 24, ist Absolventin einer Kunsthochschule und mit idealen Motiven der DDR verbunden. Ihr Bruder Uli, 25, hat gerade sein Diplomstudium als Schiffsbauer erfolgreich absolviert. Sein älterer Bruder Konrad nahm mit gleicher Qualifikation schon den Weg in den Westen und fand einen guten Job in Hamburg. Wegen dieser „Republikflucht“ gilt Uli als per se unzuverlässig. Seine Berufsbewerbung in einer DDR-Werft wird abgelehnt. Er packt ebenfalls die Koffer. Elisabeth will nicht auch noch ihren zweiten Bruder in den Westen verlieren. Sie kämpft erfolgreich um dessen berufliche Anstellung. Der Koffer wird wieder ausgepackt…….

Ich weiß, diese wenigen Sätze klingen ein wenig nach Hedwig Courts-Mahler. Weit gefehlt, aber es ist einfach unmöglich, in wenigen Sätzen zu beschreiben, wie es zerrissenen Menschen in einer zerrissenen Welt kurz vor dem Mauerbau ergangen ist.

Wer diesen Text in meinem Blog liest, der kennt nach meiner festen Überzeugung Christa Wolf und Brigitte Reimann. Vermutlich hat er sogar die beiden Erzählungen gelesen. Skeptisch bin ich, ob er schon wusste, dass beide im selben Jahr erschienen. Die Autorinnen waren zu diesem Zeitpunkt fast gleich alt. Wolf, 34 (Jahrgang 1929), Reimann 30 (Jahrgang 1933). Beide zählen zu den großen deutschen Literaten des Nachkriegs und bis heute. Christa Wolf hat nach dem Mauerbau auch deren Fall erlebt. Das war eine noch größere Zäsur und quasi bis zur letzten Minute ihres Lebens, sie starb 2011, hat sie klug gedacht und geschrieben.

Brigitte Reimann ging schon 1973, im 40. Lebensjahr. Wer ihr Werk bis dahin kennt, weiß, das noch viel Größeres vor ihr lag.

Literarisches Genie, Anstand, Integrität, eine unfassbare Fähigkeit zu kritischer Reflektion. Diese beiden Schriftstellerinnen konnten nur Freundinnen sein. Lesen Sie mit Herzklopfen und Gänsehaut den bei Aufbau erschienenen Band „Sei gegrüßt und lebe. 1964 bis 1973. Eine Freundschaft in Briefen und Tagebüchern“.

Und lesen Sie unbedingt ein zweites oder gar drittes Mal „Der geteilte Himmel“ und „Die Geschwister“. Und beschaffen Sie sich die DVD vom „Geteilten Himmel“. Diese grandiose Verfilmung von Konrad Wolf mit Renate Blume und Eberhard Esche als Rita und Manfred ist bei der Wiederentdeckung der beiden Erzählungen ein Muss.

P. S. Eigentlich ist der Text damit zu Ende. Aber es bedarf eines Nachtrags. Brigitte Reimann wurde am 21. Juli 1933 geboren. Ihr Todestag ist der 20. Februar 1973. Genau zu diesem Datum erschien im Jahr 2023, also an ihrem 50. Todestag, die Neuausgabe ihrer Erzählung „Die Geschwister“. Zu diesem runden Datum gesellt sich ein zweites. Die neue Edition erscheint im Jahr 60 nach der ersten Edition.

Diese Daten mit der Null am Ende sind ein wichtiger Anlass, das Buch neu in die Welt zu bringen. Der viel wichtigere Grund aber ist, dass im Jahr 2022 bei Sanierungsarbeiten in dem Haus Liselotte-Hermann-Straße 20 in Hoyerswerda – dort wohnte Brigitte Reimann in den 60er Jahren – in einem lange unberührten Treppenverschlag jede Menge Papier entdeckt wurde, das man inzwischen als wichtigen Teil des Reimannschen Nachlasses einordnen kann.

Es ist dem König Zufall geschuldet und zudem ein Glücksfall, dass die Mitarbeiter des Bauunternehmens den Namen Reimann schon einmal gehört haben mussten. Denn sonst wäre der Fund mit großer Sicherheit in einem der Container gelandet, die vor alten Häusern davon künden, dass die große Sanierung im Gang ist. Ich zitiere dazu aus dem Nachwort der gerade erschienen Neuauflage: „Unter den Papieren befanden sich ein DIN-A-5-Heft mit den ersten fünf Kapiteln der handschriftlichen Urfassung von „Die Geschwister“ und weitere Teile vor allem aus der Romanmitte. Ein sensationeller Fund, weil man bisher kaum etwas über die Entstehungsgeschichte wusste außer dem wenigen, was die damals in Hoyerswerda lebende Verfasserin ihrem Tagebuch anvertraut hatte.“

Dass die beiden eingangs genannten Erzählungen im direkten Kontext mit dem Mauerbau überhaupt erscheinen konnten, grenzt an ein Wunder. Ich habe „Die Geschwister“ in der „alten“ Fassung im Jahr 2022 gelesen. Inspiriert von der Mitteilung über den Fund von Originalmanuskripten und hinreichend sensibilisiert für den Text, von dem bekannt war, dass Reimann um viele Passagen einen nahezu aussichtslosen Kampf gekämpft hat. Aber wie wir jetzt auch im Vergleich wissen, war sie dabei recht erfolgreich. Viele der von der Zensur beanstandeten, ja schon gestrichenen Absätze durften am Ende doch erscheinen. Dennoch ist die Neuausgabe für jeden Reimann-„Jünger“ (ich bin kein Solitär, es sind Hunderttausende) ein Muss. Dazu noch einmal ein Absatz aus dem Nachwort: „Indem die in der Erstausgaben gestrichenen Passagen (mit dem gefundenen Material des Fundes aus 2022 – Anm. d. Rezensenten) in den Text wieder integriert wurden…..zeigt sich der Text rauer und authentischer und kommt dem, was Brigitte Reimann ursprünglich intendiert hatte, so nahe wie keine der früheren Ausgaben. Und so gilt mehr denn je: Die viel zu jung gestorbene Brigitte Reimann hinterließ uns das vielleicht beeindruckendste zeitgenössische Buch über die menschlichen Konflikte der deutschen Teilung – eine zeitlose Geschichte über Zugehörigkeit und Individualität, über Loyalität und den Mut, für die eigene Vorstellung von Freiheit und Glück einzustehen.“

Brigitte Reimann: Die Geschwister, Aufbau, Berlin, 2023

www.aufbau-verlag.de

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