Migration und Integration

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Hier, vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales, warteten in den Jahren 2015 und 2016 tausende Asylbewerber auf ihre Registrierung. Foto: Martin Lindner

Migration und Integration

Der Islam gehört zu Deutschland. Deutschland ist ein Einwanderungsland. Die DDR war ein Unrechtsstaat… Diese und ähnliche Bekenntnisse dienen mittlerweile als Voraussetzung für die Akzeptanz im politischen Mainstream. Jede ach so vorsichtige Differenzierung führt zur Brandmarkung als politischer Außenseiter ohne moralischen Kompass. Tatsächlich jedoch erfordern alle drei Thesen, wie viele andere auch, eine differenzierte Antwort und eignen sich eben nicht als argumentative Daumenschraube. Wie so oft kommt es auf den Vergleichsrahmen und auf die jeweilige Perspektive an. In puncto Einwanderung stellt sich beispielsweise die Frage, ob wir Deutschland mit den Vereinigten Staaten oder eher mit China vergleichen wollen. In dem einen Falle wäre die Bundesrepublik von erstaunlicher Homogenität und in dem anderen enorm divers. Im klassischen Verständnis meint der Begriff Einwanderungsland, dass die derzeitige Titularnation sich kulturell und politisch durch Einwanderung überhaupt erst konstituierte, was im Übrigen nicht selten mit der nahezu vollständigen Marginalisierung der indigenen Bevölkerung einherging. Beispiele für solche klassischen Einwanderungsländer wären die USA, Kanada, Australien oder Neuseeland. Auch die meisten lateinamerikanischen Staaten wären hinzuzählen, wiewohl sich Neuankömmlinge und Indigene hier etwas stärker vermischten.

Europa hingegen war über Jahrhunderte hinweg eher die Quelle von Zuwanderung und weniger deren Ziel. Diese demografische Expansion war ausgesprochen konfrontativ, ausgerichtet auf die Nutzbarmachung und Beherrschung ferner Länder. Aktuell stellen wiederum die ehemaligen Kolonien eine wichtige Quelle von Migrationsbewegungen nach Europa dar. In Deutschland als verspätetem Nationalstaat mit einer vergleichsweise kurzen Kolonialgeschichte ist dieser Effekt kaum spürbar, in Frankreich, Spanien, Portugal, den Niederlanden und vor allem dem Vereinigten Königreich hingegen schon.

Jedenfalls verfügen die europäischen Nationalstaaten in der Mehrzahl der Fälle über kulturelle Traditionslinien, die weniger durch Migration, sondern eher durch eine jahrhundertelange Siedlungsgeschichte vergleichsweise homogener Gruppen geprägt ist. Selbstverständlich hat es auch in diesem Gefüge immer wieder Migrationsbewegungen gegeben, diese waren jedoch integrativen Charakters und führten nicht selten zu einer raschen Assimilation.

Die Ausprägung nationaler Identitäten datiert in das Zeitalter der Aufklärung. Religiöse Bekenntnisse oder die Bindung zum jeweiligen Feudalherrn stifteten nun weniger Gemeinsinn als etwa Sprache, Kultur oder die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staatswesen. Die Ausprägung nationalistischer Regungen in fast allen Teilen Europas hatte jedoch gravierende Konsequenzen. Sie ermöglichte zum einen die Ausbildung moderner Staaten, kostete zum anderen aber auch einen extremen Blutzoll. Insgesamt bedingte die Nationalisierung der europäischen Gesellschaften eine kontinuierlich wachsende ethnische Homogenität.

Dieser Trend wurde erst mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der europäischen Integration und der Auflösung der Kolonialregime gebrochen. Seitdem verzeichnen die europäischen Staaten ganz unterschiedliche Migrationsgeschichten. Während die Volkswirtschaften West- und Nordeuropas mit ihren rasanten Wachstumsraten sich über Einwanderung ausreichend Arbeitskräfte organisieren wollten, blieben die südeuropäischen Staaten weitgehend homogen und stellten eher eine Quelle von Zuwanderung dar. Auch im sozialistischen Block gab es nach dem Krieg einen gewissen Bedarf an Arbeitskräften aus dem Ausland, allerdings blieben diese Wanderungsbewegungen quantitativ und zeitlich begrenzt. Dies führte dazu, dass dort, wo vor etwa 150 Jahren die ethnische und religiöse Vielfalt besonders ausgeprägt war – etwa in Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn – aktuell äußerst homogene Nationalstaaten bestehen. Heute wird in den sogenannten Visegrad-Staaten das west- und nordeuropäische Modell der verstärkten Einwanderung und der fortschreitenden Diversifizierung nahezu rundweg abgelehnt.

Innerhalb der Europäischen Union lassen sich demnach drei große Räume voneinander abgrenzen. Zum ersten die nord- und westeuropäischen Staaten inklusive Deutschlands. Hier liegt der Anteil von Migranten mit Ausnahme Finnlands bei durchgehend zweistelligen Werten. Dahinter folgen die südeuropäischen Länder von Portugal über Spanien, Italien, Malta bis nach Griechenland und Zypern. Die vergleichsweise hohen Migrantenquoten in Malta und Zypern können hinreichend mit der geringen Gesamtbevölkerung und den entsprechend signifikanten Wanderungseffekten aus den ungleich größeren Nachbarstaaten Italien und Griechenland erklärt werden.

In den der EU zugehörigen Staaten des ehemaligen Ostblocks bzw. des mittlerweile zerfallenen Jugoslawiens liegt der Einwandereranteil nahe null. Die teilweise hohen Ausländerquoten erklären sich nahezu vollumfänglich mit langansässigen signifikanten ethnischen Minderheiten – beispielsweise den Russen im Baltikum, den Ungarn in der Slowakei und in Rumänien oder den Serben in Kroatien und Slowenien.

Grundsätzlich lässt sich eine gewisse Korrelation zwischen wirtschaftlicher Prosperität und Migration erkennen. Allerdings gibt es auch andere Beispiele. So ist das bemerkenswerte Nach-Wende-Aufbauwerk in Polen, Tschechien, der Slowakei oder in den baltischen Staaten weitgehend ohne die Anwerbung von Arbeitsmigranten ausgekommen. Hier zeigt sich ein umgekehrter Effekt von Migration, indem nämlich die durch Staatsbürger im Ausland akkumulierten Finanzen sowie das erworbene Know-how zu Triebfedern des wirtschaftlichen Aufschwungs werden.

* Im Gegensatz zur in Deutschland üblichen Definition werden in dieser Statistik nur Migranten der ersten Generation erfasst – also jene, die selbst vom Ausland in das jeweilige EU-Land eingewandert sind.

Deutlich unterschiedliche Verteilungen in Ost und West

Die auf europäischer Ebene klar identifizierbare Ost-West-Verschiebung lässt sich auch im bundesdeutschen Vergleich nachvollziehen. So liegen die neuen Bundesländer bei lediglich einem Bruchteil des Ausländeranteils im Alt-Bundesgebiet. Mit 5,4 Prozent weist der Freistaat Thüringen die höchste Ausländerquote in Ostdeutschland auf. Im Schnitt erreichen die Neuen Bundesländer einen Wert von 5,25 Prozent. Das ist fast dreimal weniger als der Ausländeranteil im Alt-Bundesgebiet (14,6 Prozent). Schleswig-Holstein als das homogenste Alt-Bundesland liegt mit mehr als neun Prozent bereits deutlich über dem ausländerreichsten ostdeutschen Bundesland. Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Hessen erreichen Werte von mehr als 15 Prozent. Ganz vorne finden sich Bremen und Berlin mit annähernd bzw. deutlich mehr als 20 Prozent.

Ein Vergleich nach dem sogenannten Migrationshintergrund bringt eine ähnlich gelagerte Verteilung. Allerdings liegen hier Sachsen und Brandenburg mit 6,5 Prozent an der Spitze der Neuen Bundesländer. Im Alt-Bundesgebiet gruppieren sich Bremen, Hessen, Hamburg und Baden-Württemberg mit Werten um die 30 Prozent recht eng gedrängt um die Spitze. Mit 14,4 Prozent verzeichnet Schleswig-Holstein unter allen Alt-Bundesländern den geringsten Anteil von Personen mit Migrationshintergrund.

Das sind schon im Schnitt beachtliche Werte, doch gerade in den deutschen Metropolen werden teilweise wesentlich höhere Anteile erreicht. Darauf deutet bereits die im Mittel mehr als 20prozentige Ausländerquote in den Stadtstaaten hin. Einige andere Städte übertreffen jedoch auch diesen Wert fast spielend. Frankfurt am Main liegt an der Spitze der Rangfolge. Neben 29,5 Prozent Ausländern weisen auch etwa ein Drittel der in Frankfurt registrierten deutschen Staatsangehörigen einen Migrationshintergrund auf. Macht insgesamt einen Migrantenanteil von 53,1 Prozent. In interessierten Kreisen wurde dieser Umstand bereits als Fanal für eine drohende Umvolkung interpretiert, im weltweiten Vergleich vermögen diese Werte jedoch kaum größeres Erstaunen auszulösen – schließlich ist Frankfurt die einzige global city der Bundesrepublik.

Die größeren Metropolregionen Westdeutschlands reflektieren einen durchaus rasanten Trend von nahezu vollständiger Homogenität nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in nur 75 Jahren zu einer ausgesprochenen diversen Bevölkerungsstruktur. Es ist durchaus nicht ehrenrührig, wenn die Geschwindigkeit dieser Veränderungen in dem einen oder der anderen Beklemmungen erzeugt. Allerdings waren und sind Wanderungsbewegungen gleichzeitig Voraussetzung und Folge der bundesdeutschen Prosperität. Sie sollten weder pauschal begrüßt, noch rundweg abgelehnt werden, sondern vielmehr Akzeptanz finden als Notwendigkeit globaler Austauschbeziehungen. Jedes Land ist gehalten, daraus möglichst viel Positives und wenig Negatives für die eigene Entwicklung zu generieren. Ziel muss es sein, dem Fachkräftemangel zu begegnen ohne die Einwanderung zu einer Belastung der Sozialsysteme werden zu lassen.

Frankfurt am Main ist die deutsche Großstadt mit dem höchsten Migrantenanteil. Foto: Stadt Frankfurt

Anlässe und Quellen von Zuwanderung

Natürlich gab es auch vor dem Entstehen der Nationalstaaten Wanderungsbewegungen. Die ethnische Struktur Europas basiert nicht zuletzt auf den Folgen der Völkerwanderung. Im Mittelalter migrierten zehntausende Juden vornehmlich aus dem südwesteuropäischen Raum in das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, nach Polen und in weite Teile Osteuropas. Die Verfolgung der französischen Protestanten nutzte das Königreich Preußen für die gezielte Anwerbung hugenottischer Siedler. In der K&K-Monarchie und im Russischen Zarenreich wiederum wurden gezielt Deutsche gesucht, um bestimmte Regionen zu entwickeln und urbar zu machen. In der Phase der Hochindustrialisierung kamen tausende polnische Arbeiter ins Ruhrgebiet und in andere industrielle Zentren Mitteleuropas. Und in den Jahrzehnten rund um die Wende zum 20. Jahrhundert wanderten aus allen Teilen Europas unzählige Menschen nach Übersee aus.

Doch all diese Prozesse wurden in den Schatten gestellt durch die Brutalität der NS-Diktatur und des durch sie ausgelösten Zweiten Weltkrieges. Ganze Völker wurden verdrängt, verschoben oder gar vernichtet. Und im Ergebnis des Krieges wurden wiederum Grenzen versetzt, suchten Millionen Menschen – teils erzwungen, teils selbstbestimmt – eine neue Heimat.

Dies war der Ausgangspunkt für die moderne europäische Migrationsgeschichte, die nun nicht mehr militärisch, kulturell oder politisch getrieben war, sondern vornehmlich ökonomischen Impulsen unterlag. Die Volkswirtschaften Mitteleuropas konnten sich nach dem Ende des Krieges in erstaunlicher Geschwindigkeit konsolidieren. Das Wirtschaftswunder zeigte sich nicht nur in Deutschland, sondern auch im Benelux, im Vereinigten Königreich oder in Frankreich. Die Bundesrepublik profitierte dabei insbesondere von Zuwendungen aus den USA und insofern von der Frontstellung im Kalten Krieg. Da die mittlere Generation kriegsbedingt quantitativ ausgedünnt war und viele der ganz Jungen in den Kriegsjahren gar nicht erst geboren wurden, konnte der stetig wachsende Bedarf an industriellen Arbeitskräften bald nicht mehr ausgeglichen werden. Schon zehn Jahre nach Kriegsende wurde deshalb das erste Anwerbeabkommen unterzeichnet. Mit der Republik Italien wurde vereinbart, dass die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit zusammen mit ihrem italienischen Pendant Arbeitskräfte auswählen und anwerben darf. Aufgrund des großen Erfolges und des anhaltenden Bedarfes wurden in der Folge auch mit anderen Staaten zahlreiche entsprechende Vereinbarungen getroffen. Dies waren Spanien, Griechenland, die Türkei, Marokko, Südkorea, Portugal, Tunesien und Jugoslawien. Deren Arbeitskräfte wurden umso mehr benötigt, als mit dem Mauerbau und der damit verbundenen Abriegelung der DDR eine wichtige Quelle des bundesdeutschen Fachkräftepotentials verlorenging. Insgesamt wurde fast 20 Jahre lang eine intensive Anwerbungspolitik verfolgt. Sie erhielt mit der kurzen Rezession gegen Mitte der 1960er Jahre einen ersten Dämpfer und wurde schließlich mit der Ölkrise 1973 vollkommen aufgegeben. Zwischen 1955 und 1963 kamen etwa 14 Millionen ausländische Arbeiter, von denen elf Millionen später wieder in ihre Heimat zurückkehrten. Die restlichen drei Millionen blieben und prägten zusammen mit ihren Nachkommen zunehmend das Gesicht deutscher Städte.

Ethnisch betrachtet, stellten die Türken seit Mitte der 1960er Jahre den größten Gastarbeiteranteil. In den zwölf Jahren zwischen 1961 und 1973 kamen etwa eine Million Menschen aus der Türkei nach Deutschland. Ziel der Bundespolitik war es zunächst, sie weitgehend zu segregieren und nach einigen Jahren wieder zurückzuschicken. Allerdings zeitigte der Anwerbestopp des Jahres 1973 genau den gegenteiligen Effekt. Viele Türken in Deutschland fürchteten zurecht, dass sie nach einer einmaligen Ausreise nicht mehr in die neue Heimat einreisen dürften. Die seinerzeit noch bestehenden enormen Verwerfungen in puncto Produktivität, sozialer Sicherheit und Lebensstandard zwischen der Türkei und Deutschland trugen dazu bei, die Rückkehroption nicht sonderlich verheißungsvoll erscheinen zu lassen. Die politische Instabilität der Türkei mit wechselnden zivilen Regierungen und wiederholten Militärputschen tat ihr Übriges. Und da auf Drängen der deutschen Arbeitgeberverbände und der türkischen Regierung 1964 die Möglichkeit zum Familiennachzug eingeräumt wurde, stieg die Zahl der Türken in Deutschland rasant an. Schon vor dem Anwerbestopp 1973 bildeten sie die größte ausländische Community in der Bundesrepublik. Ende der 1970er Jahren waren mehr als eine Million türkische Staatsbürger in den Einwohnermeldeämtern registriert. Bis heute wuchs deren Zahl auf etwa drei Millionen.

Die Anwerbung von Gastarbeitern wird regelmäßig als Ausgangspunkt der ethnischen Diversifizierung innerhalb Deutschlands angesehen. Und tatsächlich lässt sich dieser Einfluss kaum überschätzen. Doch es gab auch andere Quellgebiete, Auslöser und Phasen der Einwanderung. Beispielsweise gehören die zweit- und drittgrößte Migrantengruppe in Deutschland eben nicht zu jenen, die dereinst im Zuge des Wirtschaftswunders gerufen wurden. Polenstämmige Bürger stellen – je nach Quelle – zwischen 1,9 und 2,5 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung. Dies entspricht zwischen 1,6 und 2,1 Millionen Menschen. Die meisten der hierzulande lebenden Polen kam in den 1980er und 90er Jahren nach Deutschland. Mit der seit 2011 geltenden vollständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU ist ihr Anteil nochmals gewachsen. Im Hinblick auf Sprachkenntnisse, die Akzeptanz von Mischehen, Schulabschlüsse, Erwerbsquote und Kriminalitätsrate gelten Polen in Deutschland mittlerweile als „Musterimmigranten“. Dies führt dazu, dass diese quantitativ durchaus signifikante Gruppe selbst von vielen polenstämmigen Bürgern als weitgehend unsichtbar empfunden wird. Die Zahl der Polen in Deutschland verdeutlicht auch den wachsenden Einfluss der EU-Binnenmigration auf die Bevölkerungsstruktur. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist Deutschland das bevorzugte Ziel von EU-Ausländern, die sich abseits der Heimat eine Perspektive erarbeiten wollen.

Die drittgrößte Migrantengruppe in Deutschland beleuchtet einen weiteren Aspekt von Wanderungsbewegungen. Nämlich den der Rückkehr in die alte Heimat der Vorfahren.

Seit den 1980er Jahren kamen mehr als zwei Millionen Menschen aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Die Mehrzahl von ihnen definierte sich als ethnische Deutsche. Die Bundesrepublik gewährte ihnen nach Einreise und Prüfung die deutsche Staatsbürgerschaft und stattete sie entsprechend mit vollen Bürgerrechten aus. Zusätzlich wurde auch russischen Juden in der Regel eine Aufenthaltserlaubnis gewährt. Und nicht zuletzt ist auch die Zahl der ethnischen Russen in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Begreift man die sehr heterogene Gemeinschaft der Russischsprachigen in Deutschland als einheitliche Kategorie würden sie nach den Türken die größte Migrantengruppe stellen. In den vergangenen Jahren ist ein deutlicher Trend zu erkennen, wonach sich russischsprachige Bürger hierzulande wieder stärker mit der alten Heimat identifizieren. Hier spielen die politischen Friktionen zwischen der Bundesrepublik und der Russischen Föderation eine gewisse Rolle.

Mit etwa anderthalb Millionen Menschen stellen die Araber die viertgrößte Migrantengruppe. Mehr als die Hälfte von ihnen stammt aus Syrien und ist in den vergangenen Jahren über die Asyleinwanderung nach Deutschland gelangt. Insgesamt ist die Gruppe der Araber in Deutschland ausgesprochen heterogen. Sie kommen aus allen Teilen der arabischen Welt und sprechen dementsprechend unterschiedliche arabische Dialekte. Die große Mehrzahl definiert sich als sunnitische Moslems, doch unter ihnen sind auch Christen, Schiiten, Alawiten, Drusen, Juden und Atheisten. Deutschland und die arabische Community stehen noch vor erheblichen integrativen Herausforderungen. Dazu kann beigetragen haben, dass die Araber hierzulande ihre Heimat zumeist im Zuge militärischer Konflikte verlassen haben. Dazu zählen die Bürgerkriege im Libanon, im Irak, in Algerien genauso wie die noch immer tobenden Auseinandersetzungen in Syrien.

Hier im Grenzdurchgangslager Friedland nahe Göttingen wurden zunächst Kriegsheimkehrer, dann Übersiedler aus der DDR und später Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion aufgenommen. Foto: Wistula

Deutlich verstärkte Einwanderung

In der Retrospektive der vergangenen 70 Jahre hat sich die Einwanderung nach Deutschland aus ganz unterschiedlichen Quellen gespeist. Zunächst wurde aktiv um Gastarbeiter geworben, dann wurde für diese Gruppe der Familiennachzug zugelassen, dann kamen vermehrt Menschen aus Polen zu uns, später wurden deutschstämmige Siedler aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion repatriiert, dann folgte im Zuge der Balkan-Kriege eine erste verstärkte Einwanderung über das Asylgesetz, nach der EU-Osterweiterung und der Einführung der Niederlassungsfreiheit spielt die EU-Binnenmigration eine wachsende Rolle und schließlich sind seit 2014 erneut die Asylbewerberzahlen in die Höhe geschnellt.

Nachdem in den Jahren 2008 und 2009 mehr Menschen das Land verließen, als zu uns kamen, hat sich die Entwicklung seitdem deutlich umgekehrt. Nicht nur die EU-Binnenmigration, sondern insbesondere die Asyleinwanderung haben sich spürbar verstärkt. Schon 2013 hatten sich die Asylbewerberzahlen im Vergleich zu 2008 in etwa vervierfacht. 2014 dann wurden mehr als 200.000 und 2015 annähernd 500.000 Asylanträge gestellt. Insgesamt betrug der Wanderungssaldo im Jahre 2015 erstmals mehr als eine Million Menschen. Und auch in den vergangenen Jahren werden recht kontinuierlich Werte zwischen 400.000 und 500.000 Menschen erreicht, die mehr nach Deutschland kamen, als das Land verließen. Demografische Prognosen gingen zu Beginn dieses Jahrhunderts noch von einer baldigen Umkehr der Bevölkerungsentwicklung aus, doch insbesondere die Migrationsprozesse haben dazu beigetragen, dass die deutsche Gesamtbevölkerung mit Beginn dieses Jahres erstmals auf mehr als 83 Millionen Menschen gewachsen ist. Da die Fertilitätsrate mit 1,6 Kindern pro Frau noch immer recht deutlich unter dem sogenannten Reproduktionsniveau von 2,1 liegt, werden die Wanderungsgewinne mittelfristig zwangsläufig zu einer stetig wachsenden ethnischen Vielfalt beitragen. Schon im Jahr 2018 hatten mehr als 40 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund. Dieser Wert wird einerseits weiter steigen und sich andererseits in die höheren Alterskohorten verschieben.

In vielen Großstädten der Bundesrepublik sind Schüler aus autochthon deutschen Elternhäusern schon heute in der Minderheit. Aus dieser rasanten Entwicklung erwachsen zum einen Chancen, zum anderen aber auch erhebliche Risiken. Die Wanderungsgewinne sind durchaus geeignet, dem wachsenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken, stellen den Zusammenhalt der Gesellschaft aber vor eine erhebliche Belastungsprobe.

Klare Strategien

Die Notwendigkeit einer konsistenten Einwanderungspolitik ist mittlerweile – mit Ausnahme der AfD – weitgehend politischer Konsens. Und auch angesichts einer zunehmend globalen Integration wird sich die Bundesrepublik der damit einhergehenden Diversifizierung kaum verschließen können. Umso wichtiger erscheint es, einerseits für Offenheit zu werben, andererseits aber auch klare gesellschaftliche Leitlinien zu entwerfen. Leitkultur hin oder her, Deutschland braucht einen belastbaren Konsens. Den bietet unser Grundgesetz und alle Teile der Gesellschaft sind eingeladen, sich als Verfassungspatrioten dahinter zu vereinen.

Der Erfolg der deutschen Integrationspolitik der vergangenen Jahrzehnte ist ambivalent zu beurteilen. Ganz sicher hat es geschadet, dass die Bundesregierung zunächst aktiv versuchte, die sogenannten Gastarbeitermilieus möglichst von der deutschen Bevölkerung zu trennen. Allerdings beruhte diese Strategie auf der klar formulierten Prämisse, dass sich die Gastarbeiter nur temporär in Deutschland aufhalten sollten. Es waren schließlich die Arbeitgeberverbände, die sich für den Familiennachzug und auch für ein dauerhaftes Bleiberecht einsetzten. Spätestens ab diesem Zeitpunkt hätte die neue Situation von einer vehementen Integrationsoffensive begleitet werden müssen. In diesem Zusammenhang hätte sowohl der Mehrheitsgesellschaft als auch den neuen Mitbürgern ein deutliches Mehr an Offenheit und Gemeinschaft abverlangt werden müssen.

Dass autochthon deutsche und insbesondere muslimische Mitbürger sich über Jahrzehnte in einzelnen Stadtteilen segregierten und voneinander fernhielten, hat dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft nicht gutgetan. Wenn aktuell über die Defizite der Integration bzw. über parallele Wertestrukturen gesprochen wird, geht es zumeist um die scheinbar unauflöslichen kulturellen Gegensätze zwischen Orient und Okzident. Polen, Russen, Vietnamesen und andere spielen in dieser Erzählung nur eine untergeordnete Rolle, weil sie eben nicht dem islamisch geprägten Kulturraum entstammen. Allerdings kann die immerwährende Thematisierung vermeintlicher Unterschiede auch zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Millionen rechtschaffener Bürger fühlen sich durch die ständige Ineinssetzung mit Kriminalität, Frauenverachtung und religiösem Wahn in die falsche Ecke gestellt. Das kann zu einer Abkehr vom Diskurs und im schlimmsten Falle zu einer antideutschen Abwehrhaltung führen. Insofern sollte bei aller notwendigen Thematisierung bestimmter Missstände das richtige Maß gehalten werden. Ja. In den vergangenen Jahrzehnten wurden Fehler gemacht. Doch das sollte den Blick auf das Gute nicht verstellen. Schließlich erlebten wir bis zur Corona-Krise einen langanhaltenden Wirtschaftsboom, konnte der Fachkräftebedarf zumindest halbwegs gedeckt werden, ist die Zahl der Arbeitslosen sukzessive gesunken, befinden sich die Sozialhilfeausgaben auf einem stabilen Niveau, ist die Jugendarbeitslosigkeit weitaus geringer als bei vielen unseren Nachbarn und geht die Kriminalität seit Jahren bundesweit zurück. Daran haben alle ihren Anteil und es wäre zu wünschen, dass aus diesen Erfolgen ein starkes Gemeinschaftsgefühl und im besten Falle eine gemeinsame bundesrepublikanische Identität hervorgehen könnte.

Die Politik ist jedenfalls gehalten, alle Gruppen angemessen zu repräsentieren, transparent über aktuelle Herausforderungen aufzuklären und Einwanderung möglichst so zu gestalten, dass sie der Bundesrepublik nutzt, den Herkunftsländern aber keinen Schaden bringt und die Gesellschaft insgesamt nicht überfordert.

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