„Es scheint, wir verlernen es mehr und mehr, einen kultivierten Diskurs zu führen“
Interview mit Dr. Reiner Haseloff, Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt
Blog UNTERNEHMERIN KOMMUNE (UK):
Sie haben 2017, im 500. Jubiläumsjahr der Reformation, zu den 95 Thesen Martin Luthers eine neue These 96 formuliert. Diese schmückte im Gedenkjahr auch die Wittenberger Schlosskirche. Denn dort soll 1517 Martin Luther seine berühmten Thesen angeschlagen haben. Die Haseloffsche Ergänzung lautete: „Höre nie auf, quer zu denken!“
Der Begriff „Querdenken“ hat zwischenzeitlich auch eine andere, eine negative Bedeutung gewonnen. Er steht seit 2020 für das Infragestellen so ziemlich aller im offiziellen Raum formulierten Inhalte.[1] Ist der Begriff „Querdenker“ damit so diskreditiert, dass er im positiven konstruktiven Kontext – so ist er ja entstanden – nicht mehr verwendet werden sollte? Brauchen wir einen neuen Begriff oder müssen wir „nur“ klarstellen, dass die inzwischen auch negative Konnotation einer guten Denktradition nicht schaden sollte?
Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff (MP):
Das ist eine berechtigte, aber schwer zu beantwortende Frage. Ich bin Naturwissenschaftler. Neue Erkenntnisse wurden zu allen Zeiten menschlicher Existenz vor allem dann gewonnen, wenn Denker auf bekannte Sachverhalte aus einer neuen oft ungewöhnlichen Perspektive schauten. Es war und ist immer produktiv und fruchtbar die ausgetretenen Pfade zu verlassen. Der im Garten liegende Isaak Newton sah mit genau dieser Haltung nicht einfach nur einen Apfel fallen. So kam er letztlich zur Formulierung des Gravitationsgesetzes.
Es scheint, wir verlernen es mehr und mehr, einen kultivierten Diskurs zu führen. Schade, dass das schöne Wort vom Querdenken nicht mehr hoffähig ist. Dafür kann der gute Begriff in seiner ursprünglichen Bedeutung nichts. Die Verantwortung tragen jene, die ihn benutzen, um grundsätzlich alles in Frage zu stellen, was Politiker und Medien in diesem Lande zu sagen haben. Kritische Distanz ist ausdrücklich erwünscht. Hinterfragen ist ja ein Aspekt der ursprünglichen Bedeutung. Aber grundsätzlich alles zu bezweifeln oder gar unter Verdikt zu stellen, ist destruktiv. Und es wird auch der Realität nicht gerecht. Ich kenne viele Politiker und Journalisten, die mit großem Verantwortungsbewusstsein der Wahrheit auf der Spur sind und genug Rückgrat haben, um einem angeblich verordneten Meinungsbild zu widersprechen. Aber sie sagen nicht einfach nur „nein“ oder „alles falsch“. Sie liefern Fakten und Argumente. Genau diesen Grundsätzen folge ich als Politiker. Sie kennen mich lange genug und wissen, wie ich oft ich gescholten wurde, wenn ich Wahrheiten gesagt habe, die als unbequem galten.
Ich mag den Begriff des Querdenkens in seiner ursprünglichen Form sehr. Als Wissenschaftler, als Politiker, als Reiner Haseloff. Aber wegen des bewussten Missbrauchs ist er diskreditiert worden. Es gibt Verwirrung, ob und wie man ihn verwendet. Deshalb würde ich meine 96. These aus dem Jahr 2017 heute anders formulieren. Vielleicht so: „Höre nie auf, etwas konstruktiv in Frage zu stellen“.
„Die Zivilgesellschaft braucht Verkünder“
UK:
„Demokratie braucht Religion“ – So der Titel eines Essays des Jenaer Soziologen Hartmut Rosa, als Buch erschienen bei Kösel. Was halten Sie, auch als bekennender Katholik, von dieser These?
MP:
Die zehn Gebote sind etwas für die Ewigkeit. Hielte sich nur jeder daran, wir hätten eine nahezu heile Welt. Aber das, was einige Jahrhunderte vor Christus zu Papier gebracht wurde, muss immer wieder auch für neue Bedingungen interpretiert werden. Gute Prediger konnten das. Sie haben die Herzen und Hirne erreicht. Viele Seelsorger beherrschen diese Kunst auch heute. Aber diese begnadete Fähigkeit trifft auf immer weniger Kirchenbesucher.
Ich kann mir eine Zivilgesellschaft ohne Verkünder, ich nenne es gern auch Generatoren, von Werten schlicht und einfach nicht vorstellen. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die Freiwillige Feuerwehr, der Sportverein und viele andere Plattformen, auf denen Menschen zusammenkommen, das, was die Kirchen lange geleistet haben, vollumfänglich kompensieren können.
Genau das meint ja auch Hartmut Rosa. Religion ist für mich in einem weiteren Sinne, auch Synonym für Moral, Ethik, gelebten Humanismus. Wenn unsere christlichen Kirchen mit diesem Verständnis eine neue Rolle in unserer säkularen Welt spielen könnten, wäre das ein bedeutender Beitrag für den Bestand unserer Wertegemeinschaft. Das Postulat steht natürlich auch für andere Religionsgemeinschaften. Sich menschlich zu verhalten, ist auch dort eine Kernforderung. Religiöser Fanatismus, egal von welcher Seite, ist damit unvereinbar.
Wer die zehn Gebote ins Heute übersetzt – und das ist die Aufgabe der christlichen Kirchen – darf das nicht populistisch tun. Es bleiben eindeutige Regeln. Deshalb darf sich Kirche nicht scheuen, klare Ansagen zu machen: Bis hierher und nicht weiter! Die allermeisten Menschen akzeptieren das. Deshalb akzeptiere ich genauso wenig, dass Politik Regelverstöße toleriert. Alle, die in unserer Gesellschaft Verantwortung haben, müssen hier an einem Strang ziehen. In diesem Bündnis kann ich mir eine lebendige Kirche, die den Zeitgeist mitprägt und dabei ihre Wurzeln bewahrt, real sehr gut vorstellen. Ich muss das Bewusstsein, dass der Mensch per se gut ist, und dass man ihn darin stärken muss, in heute fassbaren Worten artikulieren und muss zugleich Impulse zum Handeln geben. Der Mensch braucht Orientierung mehr denn je. Die Kirchen haben dazu alle moralischen intellektuellen, organisatorischen und nicht zuletzt auch rhetorischen Voraussetzungen. Dazu fällt mir der flotte Spruch ein „von den PS, die nur auf die Straße gebracht werden müssen“.
Öffentlich-Private Daseinsvorsorge in gemeinsamen Unternehmen mit kommunaler Mehrheit
UK:
Die DB AG ist chronisch und strukturell unterfinanziert. Die gewaltigen Defizite in der Infrastruktur sind kaum zu kompensieren. Ähnliche Befunde gibt es trotz großer Anstrengungen der Länder für die Krankenhauslandschaft. Auch für weitere Bereiche der Daseinsvorsorge gilt die Annahme, dass dort Wettbewerb existiert. Sind in der Daseinsvorsorge Markt und Wettbewerb wirklich die „Königswege“ für hohe Effizienz und optimale Erbringung der existentiellen Leistungen?
MP:
Ich höre immer wieder den Vorwurf, die CDU wolle die Bahn zunächst filetieren, um dann Teile wie das Netz zu privatisieren. Das stimmt nicht. Wir wollen, dass die Infrastruktur in öffentlicher Hand, staatlich oder kommunal, bleibt. Denn dort liegt die Daseinsvorsorgeverantwortung.
Sie haben dafür 2022 den Begriff der Öffentlich-Privaten Daseinsvorsorge geprägt. Dort gehen Sie ebenfalls von der Prämisse aus, dass die entsprechenden Strukturen – das Netz, die Krankenhausstandorte, die Wohnungen usw. – im Regelfall öffentlich sein müssen. Beim Bahnnetz komplett, bei Wohnungen in einem solche Umfang, dass sozialer Bedarf befriedigt und Einfluss auf den Markt, zum Beispiel auf die Mietpreise genommen werden kann. Wer die Verantwortung für die Daseinsvorsorge hat, und das sind der Staat und die Kommunen, muss dafür auch die materielle Grundlage haben. Das sind die Infrastrukturen. Darüber muss die öffentliche Hand tatsächlich verfügen können, als Eigentümerin oder durch ordnungspolitische Befugnisse.
Wir können und wollen den Wettbewerb nicht in Gänze regulieren. Denn er ist ein wichtiger Faktor unserer Wirtschaftsförderung, fördert Effizienz und Kreativität, ist Teil unseres Demokratie- und Eigentumsverständnisses. Aber Daseinsvorsorge und unregulierter Wettbewerb sind nicht kompatibel. Denn beim ersten gilt das Primat der Aufgabenerfüllung, beim zweiten ein möglichst hoher Gewinn.
Für die Erbringung der Leistungen in der Daseinsvorsorge kann ich ihrem Plädoyer für gemeinsame Unternehmen von Staat oder Kommunen mit privater Beteiligung folgen. Aus der öffentlichen Verantwortung für die Daseinsvorsorge folgt das Postulat, dass in solchen Unternehmen der Staat oder die Kommunen eine Mehrheit haben müssen.
Es gibt bekanntlich leistungsfähige private Unternehmen, die erfolgreich in der Daseinsvorsorge tätig sind. Deren Know-how und deren Effizienz können in den genannten öffentlich-privaten unternehmerischen Strukturen positive Impulse setzen. Das zeigen viele Beispiele. Auch für die DB AG könnte das ein Weg sein. Das muss man praktisch durchspielen, ohne ideologische Zuspitzung. Bei der DB AG darf es kein „weiter so“ geben. Mit dem planlosen Herumdoktern nur an Symptomen muss es endlich vorbei sein. Gefragt sind Konsequenz und der Mut zu neuen Wegen. Privatisierungen, auch von Teilen des Bahnkonzerns, schließe ich aus. Bei Kooperationen in der skizzierten Art müssen alle beteiligten Partner ins Obligo gehen. Ich fordere vom Bund, dass er seine Eigentümerfunktion mit diesen Prämissen endlich aktiv wahrnimmt. Die Bahn hat bei der Verkehrswende zur Nachhaltigkeit – das heißt für Personen- und Güterverkehr das Primat der Schiene – eine Schlüsselrolle, füllt sie aber nicht aus. Hier haben wir katastrophale Defizite im Ergebnis jahrzehntelanger Fehlsteuerungen.
„Bürgergeld für dauerhafte Rückkehr in Arbeit ein Hemmnis“
UK:
Sie haben vor mehr als zehn Jahren das Konzept „Bürgerarbeit“ entwickelt. Die praktische Erprobung war sehr erfolgreich. Umfassend umgesetzt aber wurde es nie. Die Situation hat sich grundlegend aber nicht geändert. Insofern stellt sich die Frage nach einem neuen Anlauf, nicht zuletzt wegen des eklatanten Mangels an Fachkräften bzw. generell an Arbeitskräften?
MP:
Die Verabschiedung von den Schröderschen Arbeitsmarktreformen und deren Ersatz durch das heutige Bürgergeld halte ich für einen verhängnisvollen Fehler. Alle positiven Verheißungen sind ausgeblieben. Es wird aber sehr viel mehr Geld ausgegeben, Tendenz weiter steigend, das bei den dringenden Investitionen in die öffentliche Infrastruktur fehlt.
Das Bürgergeld ist beim Ziel, die dauerhafte Rückkehr in Arbeit zu bewirken, ein Hemmnis. Auch angesichts des dramatischen Fach- und Arbeitskräftemangels ist das für den deutschen Wirtschaftsstandort inakzeptabel.
Warum zurück zu Schröder? Weil dort Strukturen geschaffen wurden, mit denen das Kohl-Wort von der „Arbeit, die sich wieder lohnen muss“, deutlich besser umgesetzt werden konnte. Dort waren auch die Schnittstellen zu meinem Konzept Bürgerarbeit.
Das jetzige Bürgergeld ist dazu wiederum nicht passfähig. Wer arbeitsfähig ist, der muss arbeiten. Diesen Grundsatz kann man doch mit einem unbürokratischen Mechanismus, der nicht ausgehebelt werden kann, umsetzen. Alle ehemaligen DDR-Bürger, die die Wende im erwachsenen Alter erlebt haben, wissen sehr genau, was beim Ausgießen der sozialen Gießkanne ohne relevante Gegenleistungen am Arbeitsplatz rein ökonomisch passiert – der Staatsbankrott.
UK:
Es gibt einen breiten Konsens zur grundsätzlichen Bewertung der AFD mit Stichworten wie rechtsradikal, ausländerfeindlich usw. Gibt es auf dieser Grundlage Unterschiede im Umgang mit dieser Partei auf den Ebenen Bund, Länder und Kommunen?
MP:
In unserer demokratisch verfassten Bundesrepublik gibt es den Bund und die Länder. Dort werden in allgemeinen freien und geheimen Wahlen die Abgeordneten des Bundestages und der Länderparlamente gewählt. In diesen Gremien werden Gesetze verfasst. Dort ist der Bürger der Souverän. Mit seiner Stimme entsendet er die Parlamentarier. Gesetzgebung, das ist der Hort, der heilige Gral unserer Demokratie. Das wissen alle Parteien im demokratischen Spektrum. Die AfD wiederum übt nicht nur im Detail, sondern auch grundsätzlich Kritik an diesen demokratischen Strukturen. Sie ist eine Partei am äußersten rechten Rand. Deshalb und wegen nicht nur rechtsradikaler, sondern rechtsextremistischer Positionen zum Beispiel zum Thema Flüchtlinge und Asylsuchende hat der Verfassungsschutz die Partei zurecht als rechtsextremen Verdachtsfall eingestuft. Mehr Gründe braucht es nicht, um für politische Parteien, die fest auf dem Boden unseres Grundgesetzes stehen, Kooperationen jedweder Art mit der AfD auszuschließen.
Auch auf kommunaler Ebene muss es darum gehen, Mehrheiten in der demokratischen Mitte zu finden. Das setzt bei allen demokratischen Mitgliedern einer kommunalen Vertretungskörperschaft Kompromissbereitschaft voraus. Die Kommunen haben in der Staatsorganisation eine reine Verwaltungs- und Exekutivfunktion. Auch die Gremien, also die Kreistage, die Stadt- und Gemeinderäte, sind Teil dieser Strukturen ohne Gesetzgebungsbefugnis. Kommunales Satzungsrecht darf nicht in Grundrechte eingreifen. Die Vertretungen werden zwar ebenfalls frei, allgemein, geheim und direkt vom Bürger gewählt, aber sie sind funktionell Teil der Verwaltung. Ihre Beschlüsse müssen sich trotz erheblicher Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen der staatlichen Gesetze halten; darüber wacht neben den Gerichten auch die staatliche Kommunalaufsicht. Das heißt: Wer in der Kernverwaltung und den genannten Gremien Sitz und Stimme, also das Sagen hat, muss sich ohne Wenn und Aber an die Gesetze zu halten, die in den Parlamenten vom Bund und der Länder beschlossen werden. Das gilt auch für den Landrat des Kreises Sonneberg, seit 2023 der deutschlandweit erste aus der AfD in einem solchen kommunalen Spitzenamt, und natürlich auch für jeden hauptamtlichen Bürgermeister.
Wie man weiß, warb Robert Sesselmann seinerzeit mit Parolen wie „Weg mit dem Euro”, „Friedensverhandlungen mit Russland”, „Sofortige Abschiebung krimineller und abgelehnter Asylbewerber” im Wahlkampf für sich und seine in Thüringen als gesichert rechtsextremistisch geltende Partei. Jetzt, nach fast einem Jahr im Amt, scheint er in der kommunalen Wirklichkeit angekommen zu sein. Seine wichtigsten Themen sind jetzt die Digitalisierung, der Schulbau und der insolvente Klinikverbund mit zwei Krankenhäusern vor Ort. Das hat er im Juni 2024 gegenüber dem ZDF bekundet.[2] Hier stehen die Vertreter der demokratischen Parteien nun vor der schwierigen Aufgabe mit dem Landrat bei der Bewältigung der kommunalen Kernaufgaben zusammenzuwirken und darauf zu achten, ob er dem nachkommt, wozu er qua Amt verpflichtet ist. Das erwarten auch die Bürger, denn es geht hier um Daseinsvorsorge.
Infrastruktur von Morgen für Hochtechnologie-Weltunternehmen – das garantieren in Sachsen-Anhalt leistungsstarke kommunale Unternehmen
UK:
In Sachsen-Anhalt stehen große Industrieansiedlungen an, in erster Linie die von Intel in Magdeburg. Wie steht das im Kontext zur lokalen und regionalen Kommunalwirtschaft als Erbringer existentieller Daseinsvorsorgeleistungen, aber auch verantwortlich für moderne Infrastrukturen für die private Wirtschaft?
MP:
Wir sind sehr froh, dass Intel in Magdeburg, in unserem Sachsen-Anhalt, bald die modernsten Chips der Welt produzieren wird. Wir waren uns einig, dass wir in Europa die starken Abhängigkeiten z. B. von asiatischen Herstellern reduzieren müssen. Das geht nur mit neuen Standorten auf dem Kontinent. Dass sie in Ostdeutschland errichtet werden, ist für diese Länder ein starkes positives Signal. Für uns ist es auch eine große Verantwortung und zugleich Herausforderung. Denn natürlich braucht ein solches Zukunftsunternehmen auch eine Infrastruktur von Morgen. Telekommunikation, erneuerbare Energien in großem Umfang bis hin zu hervorragenden Kindergärten und Schulen für die Kinder der vielen neuen Mitarbeiter. Das werden wir bereitstellen, und das schaffen wir nur mit leistungsfähigen kommunalen Unternehmen und Bildungsstrukturen.
Die Ansiedlungen von Intel haben auch einen hohen Wasserbedarf. Dafür muss die bestehende Infrastruktur ausgebaut und erweitert werden. Zuleitungen aus anderen Regionen sind im Gespräch, denn der industrielle Bedarf darf nicht zu Einschränkungen für die Bürger führen. Deren Bedürfnisse haben weiterhin die höchste Priorität. Insgesamt wird es nicht nur beim Wasser sehr hohe Umweltstandards bei dieser Ansiedlung geben.
Die Trinkwasserversorgung Magdeburg ist ein leistungsfähiges kommunales Unternehmen mit 18 kommunalen Anteilseignern – unter anderem die Städtischen Werke Magdeburg als größter Gesellschafter, eine Reihe von Zweckverbänden und Umlandkommunen – das diese Herausforderung bewältigen wird. Ich habe mich schon als Wirtschaftsminister sehr dafür engagiert, für die Daseinsvorsorge bestmögliche Rahmenbedingungen zu etablieren, auch gegen den Widerspruch von Verfechtern neoliberaler Positionen. Im Bundesvergleich verfügt Sachsen-Anhalt über ein ausgesprochen fortschrittliches und kommunalfreundliches Gemeindewirtschaftsrecht mit sehr guten Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche kommunalwirtschaftliche Betätigung. Diesen Status haben wir über einen längeren Zeitraum erreicht, indem wir den Rechtsrahmen immer wieder an neue Bedingungen angepasst haben. Bereits ab 2001 entfiel für Energieunternehmen die Prüfung des Vorliegens eines öffentlichen Zwecks und der Subsidiaritätsvorbehalt. Zugleich wurde unter bestimmten Voraussetzungen eine überörtliche Betätigung zugelassen. Noch bestehende Einschränkungen wurden 2007 für den Energiebereich sogar komplett aufgehoben. Das brachte erhebliche Erleichterungen für die überregionale Betätigung in den Bereichen der Strom-, Gas- und Wärmeversorgung. Diese Novellierungen sollten die Kommunen in die Lage versetzen, sich bei der Versorgung mit Strom, Gas und Wärme auch außerhalb des Gemeindegebietes wirtschaftlich zu betätigen. Wir haben es ermöglicht, dass die Stadtwerke weitgehend gleichberechtigt am Wettbewerb mit den großen privaten Anbietern teilnehmen können und tragen der Tatsache Rechnung, dass kommunale Unternehmen im Energiesektor und in anderen Bereichen der Daseinsvorsorge eine sehr wichtige Funktion auf dem Markt erlangt haben. Wenn es die Bedingungen erfordern, werden wir den Rechtsrahmen nachjustieren.
Mit Blick auf die großen Ansiedlungen von heute können wir zu Recht sagen, dass unsere langfristigen Weichenstellungen jetzt Früchte tragen. Unsere kommunalen Unternehmen sind in der Lage, den Bedürfnissen eines weltweit führenden Hochtechnologie-Konzerns Rechnung zu tragen. Das ist ein ganz entscheidender Grund für die Entscheidung für Magdeburg und Sachsen-Anhalt. Denn die öffentliche Förderung hätte an jedem anderen deutschen Standort ebenfalls stattgefunden.
Dazu noch einmal das Stichwort Erneuerbare Energien. Sachsen-Anhalt steht bei der Erzeugung von Windenergie bundesweit bezogen auf die Bevölkerungszahl auf Platz 3. Auch hier zahlt es sich aus, dass wir Vorreiter waren. Es ist für mich ein gutes Gefühl, dass der Windstrom, der bei uns produziert wird, bald von Intel in viel größerem Umfang auch in Magdeburg genutzt wird. Das ist doch viel intelligenter, als ihn über hunderte von Kilometern sehr teuer nach Süddeutschland zu transportieren.
UK:
Am 8. Oktober 2023 war im MDR zur besten Sendezeit den Dokumentarfilm „Wenzel – Glaubt nie, was ich singe“ zu sehen. Der fast zweistündige beeindruckende Streifen von Lew Hohmann über einen der bekanntesten deutschen Liedermacher mit Wurzeln in der Lutherstadt Wittenberg enthielt auch eine längere Sequenz mit Ihnen. Ich saß als bekennender Wenzel-Fan vor dem Bildschirm und staunte nicht schlecht, als ich Sie im Gespräch mit dem Barden sah. Wie kam es dazu?
MP:
Wenzel und ich waren im selben Gymnasium, damals hieß das Erweiterte Oberschule, und sie trug den Namen Philipp Melanchthon. Wenzel war ein Jahrgang unter mir. Ich machte 1972 mein Abitur, er 1973. Wir kannten uns, nicht nur weil sein Vater mein Kunsterziehungslehrer war. Beide waren wir langhaarig und nicht nur dadurch als unangepasst erkennbar. Ich war zudem ein junger und engagierter Katholik. Das passte alles nicht in die gängigen DDR-Raster.
Ich habe mich in der filmischen Begegnung mit Wenzel noch sehr gut daran erinnert, dass ich damals ein glühender Fan der Rolling Stones war. Das habe ich mir bis heute bewahrt und natürlich habe ich mir auch die 2023 erschienene CD gekauft.
Ich bin beeindruckt, wie sich Wenzel seine Geradlinigkeit, seine Ehrlichkeit, seine Authentizität über all die Jahre in der DDR und bis heute bewahrt hat. Er hat eine eigene Meinung, und er sagt sie auch. Das war für ihn in der DDR alles andere als einfach, und das findet auch heute nicht nur Anklang, sondern trifft auch auf heftigen Widerspruch. Für mich ist er ein Mensch, der noch in dem konstruktiven Sinne quer denkt, wie es am Beginn unseres Interviews Thema war. Da ist er mir sehr nahe, auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind.
UK:
Herr Ministerpräsident, wir bedanken uns für das Gespräch.
[1] Die UK-Redaktion empfiehlt als Hintergrund diesen Glossar zum Thema Querdenker:
https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/516449/querdenker/, Zugriff am 23. Juli 2024
[2] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/sesselmann-afd-landrat-thueringen-sonneberg-100.html