Daseinsvorsorge – Rudolstadt bekennt sich

Die deutschen Kommunen werden mit Aufgaben und Anforderungen vom Bund und den Ländern geradezu überschüttet. Diese Adressaten haben es dabei offenbar nur am Rande oder gar nicht auf dem „Schirm“, dass die Priorität Nummer 1 in den Städten, Gemeinden und Landkreisen die Gewährleistung der Daseinsvorsorge ist. Darauf müssen die Kommunen viel öfter, energischer und sichtbarer aufmerksam machen. Ein erster Schritt ist das inhaltlich-visuelle Bekenntnis auf den eigenen Internetseiten. Rudolstadt im Freistaat Thüringen ist eine der ersten in Deutschland, die ihn gemacht hat.

Prio 1 für die Daseinsvorsorge!!! Rudolstadt bekennt sich dazu auf Seite 1 des offiziellen Internetauftritts

Bereits im Jahr 2014 habe ich in der damals ersten und bis heute einzigen Studie zu den Prämissen für kommunale Funktional- und Strukturreformen folgendes formuliert: „Innerhalb des kommunalen Aufgabenkanons bei den Pflichtaufgaben hat die Daseinsvorsorge einen herausgehobenen Stellenwert.“ Zentrales Ziel aller kommunalen Funktional- und Strukturreformen müsse es deshalb sein, an erster Stelle die Sicherstellung der Daseinsvorsorge zu gewährleisten.[1]

Für meine Überlegungen gab es viel Lob. Nur gehalten hat sich daran keiner.

Auch heute ist kaum ein Thema so emotional beladen ist, wie das der kommunalen Strukturen. Dieser Sachverhalt ist der über Jahre, ja Jahrzehnte praktizierten Vorgehensweise geschuldet, statt Funktional- und Strukturreformen in erster Linie Gebietsreformen auf den Weg zu bringen. Schon deshalb ist mit großer Sicherheit zu vermuten, dass emotionale Dispute wie der zum „Verlust auf Heimat“ unterbleiben, wenn künftige Reformen in der hier noch einmal begründeten Weise konzipiert und durchgeführt werden.

Dazu müssten wir uns „nur“ in die Traditionslinie der Stein/Hardenberg’schen Reformen begeben.[2] Dann gelänge uns an ein Reformwerk, das auf die objektiven Entwicklungen zu mehr Globalisierung und zu mehr Europa eine dialektische Antwort geben würde. Auf diese Weise würde die Gesellschaft insgesamt von unten nach oben ihre Stagnation überwinden und schöpferischen Elan zurückgewinnen.

Meine Eckpunkte eines solchen, ich gebe es zu, sehr visionären Projekts wären folgende:

  • Ein starker Nationalstaat mit den zentralen Exekutivaufgaben, die besser nicht in Brüssel erledigt werden sollten und auch nicht könnten (vor allem zentrale Infrastruktur, Bildung, Wissenschaft und Kultur im nationalen Maßstab und von nationalem Rang).
  • Eine starke und wirklich unabhängige Judikative auf Ebene des Nationalstaates, also mit gesamtstaatlichen Zuständigkeiten.
  • Starke Kommunen: Ober- und Mittelzentren als Zentren der Daseinsvorsorge, als Stätten der lokalen und regionalen Rechtspflege und in deren Umfeld kleine Städte und Gemeinden auch als identitätsstiftende Einheiten.
  • Verzicht auf alle weiteren Strukturen wie Bundesländer, Kreise und andere Zwischenebenen.
  • Und „über allem“ eine starke, personell und finanziell bestens ausgestattete Legislative, in der die Gesetze von A bis Z entstehen, und nicht wie bisher unter immer stärkerer Federführung der Exekutive.
  • Für diese Gesetzgebung durch die vom Volk mandatierten Repräsentanten gäbe es zwei Kammern: ein nationales Parlament und eine zweite Kammer, in der allgemein und frei gewählte Vertreter der Kommunen – zum Beispiel direkt gewählte Bürgermeister und Stadträte – über ausnahmslos alle Gesetze mit beraten und mit beschließen.
  • Vor allem über diese zweite Kammer, die „Kommunale“ könnte auch die direkte Bürgerbeteiligung am Gesetzgebungsprozess umfassend organisiert werden.

Unserem Land ging es immer gut, wenn es den Städten und Gemeinden gut ging und die Menschen vor Ort die zentrale Instanz der politischen Willensbildung waren. Also zurück zu diesen Wurzeln, zu einer kommunalen Selbstverwaltung, die diesen Namen auch verdient und zu einer Daseinsvorsorge, die im Zentrum des kommunalen Agierens steht und auskömmlich vom Zentralstaat finanziert ist.

Soweit zur Vision. Und nun zu einem der viel zu seltenen Silberstreifen am Horizont, im konkreten Fall am Himmel über dem Thüringischen Rudolstadt.

Seit einigen Wochen steht auf der offiziellen Webseite dieser Kommune – sie trägt den Beinamen „Schillers heimliche Geliebte“ – die Daseinsvorsorge genau dort, wo sie hingehört: Auf der Seite 1, der Startseite! www.rudolstadt.de

Deutlicher kann das Bekenntnis zu dieser Aufgabe im digitalen Zeitalter nicht sein. Klickt man die dominante Kachel „Daseinsvorsorge“ an, kommt als erstes die Erklärung, was wir unter diesem Begriff verstehen. Hier hat ein kluger Mensch aus der Stadtverwaltung es geschafft Eckpunkte der Definition im Gabler Wirtschaftslexikon in einer für jeden Bürger verständlichen Sprache kurz und knapp auf den Punkt zu bringen.

https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/daseinsvorsorge-28469

Danach werden alle in Rudolstadt für den Bürger verfügbaren Leistungen genannt und auch die dazu bestehenden Strukturen. So kommt man mit wenigen Schritten zum Beispiel zur kommunalen Wohnungsgesellschaft und dem städtischen Energieversorger.

Natürlich hat die dominante Präsenz der Daseinsvorsorge im Internetauftritt der Stadt eine große Symbol- und Signalwirkung. Diese Initiative von Bürgermeister Jörg Reichl hat aber  auch eine fundierte Basis. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2006 – seitdem wurde er zweimal mit überwältigender Mehrheit neuerlich als Bürgermeister gewählt – hat er bei der Ertüchtigung der städtischen Daseinsvorsorge-Infrastrukturen Maßstäbe gesetzt. Dabei nutzt er auch seine ehrenamtlichen Funktionen als Mitglied im Vorstand des Verband der kommunalen Unternehmen – in der Landesgruppe Thüringen ist er zudem stellvertretender Vorsitzender der Landesgruppe – und im Beirat der Thüga zum Know-how-Erwerb und Erfahrungsaustausch.

Nachdem die Daseinsvorsorge den Sprung auf die Titelseite der Rudolstädter Internetpräsentation geschafft hat, habe ich mir unter diesem Aspekt sehr viele Webseiten von Städten und Landkreisen angeschaut. Vergleichbares habe ich nicht gefunden. Deshalb hoffe ich, dass das Rudolstädter Beispiel Schule macht. Die Bürger sollen beim digitalen Kontakt mit ihrer Kommune auf den ersten Blick sehen, dass dort die Erbringung existentieller Leistungen den höchsten Stellenwert hat.

[1] Schäfer, M.: Daseinsvorsorge – Oberstes Gebot für jede Kommunalreform, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin, 2014, S. 9

[2] Ich meine die Städteordnung von Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein  und Karl August von Hardenberg, die Geburtsstunde unseres modernen Verständnisses von kommunaler Selbstverwaltung und Subsidiarität. Diese Reformen im Zeitraum 1808/1831 stehen für das Ideal der Selbstverwaltung. Die Städte sollten nicht mehr ausschließlich dem Staat untergeordnet sein, sondern die Bürger sollten über ihre Angelegenheiten bestimmen können. In diesem Bereich kam Steins Ablehnung einer zentralen Bürokratie am deutlichsten zum Ausdruck. Stein hoffte außerdem auf einen erzieherischen Effekt. Die Selbstverwaltung sollte das Interesse an öffentlichen Angelegenheiten wecken, was letztlich auch dem Gesamtstaat zugutekommen sollte. „Zutrauen veredelt den Menschen, ewige Vormundschaft hemmt sein Reifen.“

 

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