Stickstoffwerk Piesteritz

Strategie, Stückwerk, Symbolpolitik?

Auf weiter bestehende, ja zum Teil sogar zunehmende Ost-West-Disparitäten hat gerade Dirk Oschmann mit seinem Bestseller „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ aufmerksam gemacht (ich stelle das Buch in der Rubrik „Rezensionen“ aktuell vor).

Was Oschmann anmerkt, habe ich mit meiner eigenen aktuellen Auswertung eines Rankings der größten deutschen Unternehmen mit Fakten belegt. Fazit: Das übergreifende politische Ziel seit der Wiedervereinigung im Jahr 1990, die Verhältnisse zwischen Ost und West weitestgehend und rasch anzugleichen, liegt 33 Jahre später noch immer in weiter Ferne. Damit negiere ich nicht wichtige, aber eben nur sektorale Fortschritte. Man denke nur an die großartig sanierten ostdeutschen Innenstädte oder die vielerorts leistungsfähige öffentliche Infrastruktur. Aber die Grundlage für gleichwertige Lebensverhältnisse sind nun einmal eine vergleichbare Wirtschaftskraft und -leistung. Genau dort aber hat sich am Ost-West-Abstand nichts geändert.

Das zeigt die folgende Tabelle, die auf dem Ranking der 500 umsatzgrößten Unternehmen in Deutschland lt. Erhebung von CIO für 2021 basiert (Vgl. https://www.cio.de/top500)

Die 500 umsatzstärksten Unternehmen in Deutschland, Verteilung West- Ostdeutschland (inkl. Berlin), und Branchenmix Ost

Dass große Unternehmen an ihren Konzernstandorten das Gesicht ganzer Regionen prägen, ist hinreichend bekannt. Dafür steht sprichwörtlich „der Daimler“ in Stuttgart. Umgekehrt kann man im Ruhrgebiet besichtigen, wie trotz großer Transformationsfortschritte der Abschied von Kohle und Stahl, der bekanntlich schon Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts umfassend begonnen hat, noch bis heute negative Wirkungen hat. Ähnliches müssen wir für die traditionellen ostdeutschen Braunkohlestandorte in Ostdeutschland – in der Lausitz und in Mitteldeutschland – erwarten, denn der deutsche Ausstieg aus der Kohle bis 2030 wird deutlich schneller, ja brachialer erfolgen als es bei den Standorten an Rhein und Ruhr der Fall war.

Schon mangels großer Unternehmen vor allem im verarbeitenden Gewerbe wird das Ende der Kohle im Osten und mithin auch der fossil basierten Energieerzeugung auch bewirken, dass die schon apostrophierte Bedeutung kommunaler Unternehmen als Leuchttürme der ostdeutschen Wirtschaft noch zunehmen wird.

Diese Prognose kann direkt aus der in vorstehender Tabelle dokumentierten Allokation der 500 umsatzstärksten Unternehmen in West- und Ostdeutschland abgeleitet werden.

Die Unterschiede bei den Standorten der Großunternehmen zum Nachteil des Ostens sind gewaltig und damit auch dramatisch. Im direkten Kontext mit der Corona-Pandemie und nunmehr auch mit der russischen Aggression in der Ukraine steht die Fragilität globaler Lieferketten. Dies wird die weltweite Arbeitsteilung nicht in Frage stellen. Aber selbstverständlich werden auch die im Westen und Süden Deutschlands ansässigen produzierenden Konzerne dafür sorgen, dass besonders wichtige Zulieferer ebenfalls in ihrem näheren Umfeld angesiedelt sind. Das sind für den Osten, der seit der Wende als verlängerte Werkbank des Westens fungiert, keine guten Nachrichten. Denn unter den 18 Unternehmen aus dem Top-500-Ranking, die zwischen Rügen und Thüringer Wald angesiedelt sind, kommt kein einziges aus dem produzierenden Bereich. Neben der schon erwähnten negativen Perspektive für die Energieproduzenten auf Braunkohlebasis werden auch die drei im Osten beheimateten Vertriebsorganisationen – Zalando (Platz 107 im Ranking), Hallo Fresh SE (225) und Delivery Hero SE (309) – nicht gerade als Wachstumsmotoren fungieren. Abgesehen davon, dass man hinter die Lieferanten unter anderem von Pizza das Fragezeichen setzen muss, ob wir sie im Ranking 2022 überhaupt noch finden?

Leuchttürme im Osten: Kommunale und leistungsfähige, aber solitäre mittelständische Unternehmen der Privatwirtschaft

Ich hoffe, Sie haben meine einleitende Bestandsaufnahme gelesen. Sie ist nämlich für das Folgende unverzichtbar. Denn in den eher de-industrialisierten ostdeutschen Regionen sind die Kommunen in viel stärkerem Maße als im Westen vom Wohlergehen der wenigen wertschöpfenden Einheiten abhängig. Beim Aufzählen der Akteure mit Potenzial ist Torsten Zugehör[1] Oberbürgermeister der Lutherstadt Wittenberg, schnell am Ende. Da gibt es auf der kommunalen Seite ein leistungsstarkes Stadtwerk und auf der privaten die SKW-Stickstoffwerke Piesteritz GmbH.[2]

Das Chemieunternehmen im Wittenberger Stadtteil Piesteritz gehört zu den 50 größten Betrieben Mitteldeutschlands. Als Deutschlands größter Ammoniak– und Harnstoffproduzent produziert SKW Piesteritz mit einer Jahresleistung von über vier Millionen Tonnen Industriechemikalien und Düngemittel.  In Piesteritz besteht mit dem SKW als Nukleus der einzigen Agrochemie-Park Deutschlands. Dort arbeiten auf 220 Hektar in über 30 Firmen rund 1.500 Mitarbeiter.

Wenn dieser Standort existenzgefährdend in Schieflage gerät, kommt Oberbürgermeister Zugehör nur noch schwer oder gar nicht mehr zum Nachtschlaf.

Die Unwucht hat jedoch längst begonnen. Im Kern geht es dabei ums Erdgas. Das kam bis zum russischen Überfall auf die Ukraine verlässlich und preiswert (unter Weltmarktniveau) aus Russland. Das ist Geschichte. Ursachen und Einzelheiten sind meinen klugen Lesern geläufig. Obwohl der Gaspreis in Deutschland im Vergleich zu dessen „Explosionen“ im Jahr 2022 deutlich gesunken ist, liegt er derzeit 6 bis 10fach über dem Niveau der USA, Russlands oder Irans. Das ist verheerend! Bei den Rohstoffkosten für die Düngerproduktion hat Erdgas einen Anteil von 90 Prozent. Wenn alle Hersteller annähernd gleiche Preise haben, ist das kein Problem. Beim sechs- bis zehnfachen im Vergleich mit Wettbewerbern muss jeder Betriebswirt die Ampel auf rot schalten. Denn in jeder Produktionsminute verbrennt die Anlage Geld. Oberbürgermeister Zugehör formuliert es anschaulich: Russisches Erdgas komme zwar nicht mehr per Leitung nach Deutschland. Aber veredelt gelange es als Harnstoff mehr als je zuvor hierher. Russland habe im Zeitraum von Juli 2022 bis Januar 2023 350.000 Tonnen Düngemittel nach Deutschland geliefert.

Gegenüber dem Vergleichszeitraum ist das eine Steigerung von mehreren 100 Prozent.


[1] Ich danke Torsten Zugehör, dem Oberbürgermeister der Lutherstadt Wittenberg, dafür, dass er mich auf die besorgniserregende Lage der Stickstoffwerke Piesteritz aufmerksam gemacht, und mir für diesen Beitrag eine Reihe von Fakten zur Verfügung gestellt hat. Torsten Zugehör finden Sie in meinem Blog auch in der Rubrik „Lotsen“

[1] Meine Idee war es zunächst, die Situation in Piesteritz zusammen mit der Schieflage der Raffinerie in Schwedt/Oder, dem PCK, zu behandeln. Denn es gibt die große Übereinstimmung mit dem denkbaren Szenario in Piesteritz. Auch in Schwedt würden die Lichter ausgehen, wenn das PCK nicht schnellstens mit den Mengen Erdöl zu solchen Preisen und Qualitäten versorgt wird, wie sie für einen rentablen Betrieb vonnöten ist. Hier gibt es seit Monaten vollmundige Versprechungen aus der Bundespolitik, namentlich dem Bundeswirtschaftsministerium. Erfüllt wurde davon bis dato wenig. Wenn sich daran nichts ändert, bleibt der Schwedter Bürgermeisterin Annekathrin Hoppe, etwas zugespitzt formuliert, auch nur noch ihr Stadtwerk. Diese Katastrophe träfe nicht nur Schwedt. In der gesamten Uckermark würde es zappenduster..

Über den Gang der Dinge an der Oder informiere ich Sie, liebe Leser, in einem separaten Beitrag. 

Fazit:
(1) Weil in Relation zum Weltmarkt weiterhin überhöhte Gaspreise in Deutschland eine wirtschaftliche Produktion nicht zulassen, realisieren vorwiegend russische und iranische Exporteure wegen der dortigen niedrigen Produktionskosten und -standards am deutschen Markt märchenhaft hohe Gewinnmargen.
(2) Wegen dieser unfairen globalen Wettbewerbsbedingungen können die Stickstoffwerke Piesteritz kaum Ammoniak und Harnstoff verkaufen.
(3) Die Billiglieferungen haben dramatische operative Verluste zur Folge. Laut Oberbürgermeister Torsten Zugehör sind bis zu 10.000 Arbeitsplätze in der Region bedroht.

Die Bewertung des Bloggers:
(1) Seit Beginn des russischen Angriffskrieges hat die EU zehn Sanktionspakete gegen den Aggressor verhängt. Nummer elf wird gerade vorbereitet (bzw. ist zum Zeitpunkt, an dem Sie meinen Text lesen sogar schon in Kraft). Was davon wie gewirkt hat, ist nicht Gegenstand dieses Textes. Grundsätzlich aber bin ich mir in einem sehr sicher: Auch beim Packen dieser Pakete ging Symbolismus mit gewaltigem Wortgeprassel vor Gründlichkeit. Aber es gab ein Häkchen!!! Was fehlte war die Analyse der Wirksamkeit! Deshalb auch kein nachjustieren! Wir haben gehandelt! Nach uns die Sintflut.
(2) Dieses fatale Procedere ist prägend für deutsche Politik. Fast täglich kommen dafür neue Belege. Heute, am 7. Mai 2023, wurde es in allen Nachrichtensendungen verkündet. Im Land fehlen 378.000 Kita-Plätze. Dass es seit 1996 – in Worten: Neunzehnhundert-Sechsundneunzig — einen Rechtsanspruch gibt, ist geschenkt. Was schert mich mein Gesetz von gestern.
Auch dieses Desaster ist eine kommunale Katastrophe. Ob fehlende Kinderbetreuung oder falsche Sanktionsmechanismen – es trifft am Ende und am stärksten die Städte, die Gemeinden und die Landkreise. Und dort letztendlich die Bürger. Manch einer lädt seinen Frust bei „seinem“ Kommunalpolitiker ab. Das ist nach meiner festen Überzeugung Kalkül von „Oben“. Denn auf diese Weise bleiben die wirklich Verantwortlichen ungeschoren.
(3) Michael Lüders ist ein kluger Mann. Er scheut sich nicht vor Voten gegen den sogenannten Mainstream (worauf der in vielen Fällen basiert und wie belastbar er ist, das mache ich demnächst zum kommunalen Thema). Demnächst erscheint von dem Politik- und Islamwissenschaftler (seit 2015 auch Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft) ein neues Buch, vermutlich wie fast alle aus seiner Feder wieder ein Beststeller. Der Titel: „Die Welt sortiert sich neu! Die geopolitischen Folgen des Ukraine-Krieges.“
Was unter dieser Überschrift gemeint ist, das ist wahrlich nicht neu und hat lange vor dem russischen Krieg in der Ukraine begonnen. Mächtige Staaten – für sie steht das Kürzel BRICS, das sind deren Anfangsbuchstaben – positionieren sich immer unabhängiger von den Interessen des tradierten Westens mit den USA an der Spitze: Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika – mehr als drei Milliarden Menschen (ca. 40 Prozent der Weltbevölkerung), überproportionale BIP-Zuwächse, Hort vieler strategischer und knapper werdender Rohstoffe usw., usf………………………….Bis auf das eh stark sanktionierte Russland negieren die weiteren BRICS-Staaten nicht nur die westlichen Boykottmaßnahmen gegen das Putin-Imperium, sie konterkarieren sogar diese Maßnahmen, die damit weitgehend wirkungslos bleiben.
(4) Dass sich eine überaus heterogene Staatengruppe unter dem Motto „BRICS first“ als Zweckgemeinschaft findet, hat man in Washington, Brüssel oder Berlin sicher gemerkt. Aber es hat nicht zum Nachjustieren der eigenen Strategie geführt. Mit solcher Ignoranz schnürt man u. a. auch im besten Fall unwirksame Sanktionspakete. Leider tritt man sich aber sogar vors eigene Schienbein. Der gefährdete Industriestandort Wittenberg-Piesteritz steht dafür gleichnishaft. Und ja, Indien hat seine Erdölimporte aus Russland vervielfacht. Nicht nur für den eigenen Energiehunger. Vielmehr ist das Land auf diese Weise ein namhafter Exporteur dieses fossilen Rohstoffs geworden.
(5) Insofern müssen die Sanktionen, die Russland offenbar nicht entscheidend schwächen, wohl aber den Industriestandort Deutschland massiv gefährden – das ist nämlich mitnichten nur eine „Lex Piesteritz oder Schwedt, sondern es betrifft Großkonzerne wie die BASF und andere ebenso – in ihrer Methodik und ihrer Wirkung grundlegend hinterfragt werden.
(6) Die USA fördern mit einem gigantischen Förderprogramm klimaschonende Produktionsstandorte. Den Ruf haben deutsche Autokonzerne längs gehört. Wenn sie immer mehr Fahrzeuge in Nordamerika produzieren geht das zu Lasten ihrer Wertschöpfung in Deutschland.
(7) Die Antwort des Habeck-Ministeriums: Einmal mehr wird die Subventionsmaschine angeworfen. Mit über 20 Milliarden Euro sollen die Strompreise für die Industrie bei 6 Cent je Kilowattstunde gedeckelt werden. Profitieren sollen vor allem die Grundstoff- und die chemische Industrie. Wenn ich bei dieser Gelegenheit anmerke, dass die berechtigten Forderungen der Kommunen nach mehr finanzieller Unterstützung bei der Unterbringung und Integration der Flüchtlinge seit Monaten in Berlin auf taube Ohren stoßen, ist das mitnichten der falsche Vergleich von Äpfeln mit Birnen.
(8) Bundespolitische Entscheidungen aller Art schwächen regelmäßig die Kommunen in Deutschland. Und sie schwächen in ganz besonderem Maße jene, bei denen die Budgets schon jetzt auf Kante genäht sind. Davon haben überproportional viele eine ostdeutsche Postleitzahl. Die in Rede stehenden Industriestandorte sind gravierende Einzelfälle. Hier ist der Bund sofort in der Pflicht. Hochinnovative Standorte, zudem mit einer Pionierrolle für eine CO2-freie Zukunft wie Piesteritz müssen unter allen Umständen erhalten werden. Das ist das Gebot der Stunde, und es ist Schadensbegrenzung.
(9) Aber viel wichtiger ist es doch, dass endlich strategische kommunale Vorsorge das bundespolitische Handeln prägt. Seit vielen Jahren engagiere ich mich mit leider nur wenigen Mitstreitern dafür, dass es im Deutschen Bundestag endlich einen Vollausschuss für Kommunales gibt. Dessen zentrale Aufgabe bestünde darin, alle Gesetzesvorhaben des Bundes auf deren sachlichen und fiskalischen Wirkungen für die deutschen Kommunen zu überprüfen. Werden Belastungen identifiziert, muss der Gesetzgeber für vollständige Kompensation sorgen. Wird das nicht gewährleistet, kann das Gesetz so nicht verabschiedet werden. Ein ebenso einfaches wie wirksames Prinzip. Warum es nicht umgesetzt wird? In der vorletzten Legislatur gab es einmalig einen Unterausschuss Kommunales beim Innenausschuss. Der durfte Stellung nehmen. Das machte er mit 100%iger Folgenlosigkeit über die gesamte Wahlperiode. Dann wurde er beerdigt. Zu Recht. Aber leider folgte nicht der geforderte Vollausschuss. Die Gründe liegen auf der Hand. Die Kommunen sollen weiter im Bittsteller-Status bleiben. Da sind sich Bund und Länder ausnahmsweise einig!!!
(10) „Strategie, Stückwerk, Symbolpolitik?“ – so lautete meine Überschrift. Zum Schluss – und damit schließt sich der Kreis – die Auflösung: Keine Strategie, vor allem Stückwerk, zuvorderst Symbolpolitik!!!

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