Ein Plädoyer für mehr Sachlichkeit und weniger Alarmismus
Eines wird man Thomas Kemmerich nicht mehr nehmen können – den Titel des Ministerpräidenten a.D. Er ist erst der zweite FDP-Politiker der zu höchsten Würden in einem deutschen Bundesland gelangte; nach Reinhold Maier, der zwischen 1952 und 1953 genau 499 Tage lang Baden-Württemberg regierte. Immerhin signifikant länger als die drei Tage, an denen Kemmerich aus der Staatskanzlei grüßen durfte.
Die Landtagswahlen vom 27. Oktober vergangenen Jahres bescherten dem Freistaat Thüringen ein in der bundesdeutschen Geschichte nie dagewesenes Ergebnis. Zum ersten Mal konnten die Parteien der politischen Mitte keine Mehrheit erringen, waren die Ränder stärker als das Zentrum. Die Analogien zur späten Weimarer Republik schienen auf der Hand zu liegen, allerdings nur dann, wenn man als tragende Prämisse die generelle Wesensgleichheit von Ramelows Linken und der KPD sowie von Höckes Rechten und der NSDAP akzeptiert. Die Unfähigkeit zur Regierungsbildung mündete in den späten Weimarer Jahren in eine Präsidialdemokratie. Hindenburg setzte seine Reichskanzler ein und regierte per Notverordnungen. In Thüringen gibt es diese Möglichkeit nicht und so müssen also die in den Landtag gewählten Parteien einen Weg aus der Misere und in eine stabile Regierung finden. Doch, wenn CDU und FDP weder mit der Linken noch mit der AfD paktieren wollen und alle anderen ein Bündnis mit der AfD grundsätzlich ablehnen, ist eine Mehrheitsregierung mathematisch unmöglich. So einfach, so kompliziert. Neu wählen lassen, weil man mit dem Ergebnis nicht klarkommt, schien auch keine Option. Also nun die linke Minderheitsregierung als einzig gangbarer Ausweg. Weil dies erstens in der Kontinuität der Vorgängerregierung liegt, weil zweitens die Linke unter dem vorherigen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow mit deutlichem Abstand zur stärksten Kraft im Freistaat avancierte, weil drittens das rot-rot-grüne Bündnis unter allen denkbaren Konstellationen einer Mehrheit am nächsten kommt und weil viertens die meisten Verfassungsrechtler eine relative Mehrheit im dritten Wahlgang als ausreichende Legitimation für das Amt des Ministerpräsidenten ansehen.
Allerdings gab es ein Problem. Ob bürgerlich oder nicht, jedenfalls sah und sieht sich die Linkskoalition zu ihrer Rechten einer parlamentarischen Mehrheit gegenüber. CDU und FDP wollten damit eine linke Regierung verhindern, sich die Stimmen der AfD aber nicht einmal schenken lassen. Das war zwar mathematisch ausgeschlossen, sollte mithilfe einiger Tricksereien aber dennoch gelingen. Wir wissen nicht, wie spontan das Ganze war und welche Absprachen im Voraus getroffen wurden. Jedenfalls sind CDU und FDP ins offene Messer gelaufen. Der AfD wird seitdem eine geniale Strategie attestiert, doch angesichts der bestehenden Vorzeichen hätte jeder politisch halbwegs gebildete Pennäler diese Volte ersinnen können.
Mit der Wahl Kemmerichs desavouierte die AfD den allzu halsstarrigen Umgang mit ihr. Das politische Establishment zog daraus die Lehre, nun noch kompromissloser agieren zu müssen. Ich persönlich halte das Gegenteil für richtig. Mir erscheinen die AfD-Stimmen für Kemmerich als geringeres Problem. Viel schwerer wiegt doch, dass der FDP-Landeschef meinte, ohne jedwede Unterstützung eine Regierung zimmern zu können. Das Wort Hybris ist fast zu freundlich für diese Anmaßung.
Immer wieder Weimar
Seitdem regiert das Chaos. Die Erschütterungen des Erfurter Bebens reichen weit über die Grenzen des Freistaats hinaus. Die Zahl der „Opfer“ ist schon jetzt beträchtlich. Kemmerich selbst, Mohring, der Ost-Beauftragte Hirte und schließlich die Noch-CDU-Bundesvorsitzende Kramp-Karrenbauer. Von Dammbrüchen ist die Rede und von Brandmauern. Bei dieser Rhetorik fühlt man sich an die Saal- und Straßenschlachten zwischen Rotfrontkämpferbund und SA erinnert, an die grimmige Hetze eines Joseph Goebbels im Berliner Kampfblatt „Stürmer“, kurzum an den bevorstehenden Untergang jeglicher Zivilisation. Und dann tritt man auf die Straße und streitet sich wieder über Gendersprache, Fahrradwege und Flugscham. Alles richtig und wichtig, doch vielleicht ein Indiz dafür, dass wir uns eben nicht im Januar 1933 befinden. Es muss doch auffallen, dass diese Beschreibungen den Realitäten der heutigen Bundesrepublik nicht ansatzweise entsprechen. Ich komme zurück zum Anfang dieses Textes. Nein. Ramelows Linke ist nicht gleichzusetzen mit der KPD und auch nicht mit der SED aus grauen DDR-Zeiten. Und nein. Selbst der AfD-Rechtsaußen Höcke sollte nicht pauschal als Nazi diffamiert werden. Ein Thüringer Gericht mag geurteilt haben, dass eine solche Äußerung von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, über deren Angemessenheit und inhaltliche Richtigkeit wurde damit aber noch nichts gesagt. Es tut uns nicht gut, wenn bei divergierenden Meinungen allzu schnell der Verstand, der Charakter und/oder die Menschlichkeit des jeweiligen Gesprächspartners abgesprochen werden. Die Nazikeule ist hierzulande die schlimmstvorstellbare Diffamierung. Deren inflationärer Gebrauch stumpft nicht nur ab und verunmöglicht jede sachliche Debatte, er ist auch gleichbedeutend mit einer eklatanten Verharmlosung der tatsächlichen Schrecken zwischen 1933 und 1945. Und wer nun einwendet, dass man doch den Anfängen wehren müsse, dem sei gesagt, dass dieses Argument von einer bemerkenswerten Beliebigkeit ist und dass sich damit alles Mögliche rechtfertigen ließe. Auch umgekehrt wird ein Schuh draus. Die Dämonisierung des politischen Gegners, die rhetorische Aufrüstung und die Aggressivität der Debatten haben einen erheblichen Teil zum Scheitern der Weimarer Demokratie beigetragen. Doch so oder so. Eines steht fest. Auch mit 23 Prozent AfD-Stimmen steht Thüringen nicht vor einer neuen Nazi-Diktatur. Punkt.
Baldrian für alle Beteiligten. Mal wieder zum Florett greifen und nicht immer gleich zur rhetorischen Kalaschnikow. Allerorten wird die wachsende Spaltung im Land und eine zunehmende Aggressivität der Sprache beklagt. Zumindest hier sind sich Linke, Mittige und Rechte einmal einig. Dann sollte doch jeder bei sich selbst anfangen, sich sachlich auseinandersetzen und nicht ad hominem argumentieren. Die übergroße Mehrheit der AfD-Mitglieder und -Wähler wird die Zuschreibung Nazi oder Faschist als fürchterliche Beleidigung empfinden. Das ist doch zumindest ein Anzeichen, dass sich der übergroße Teil der Partei von dieser Denklehre distanziert.
Ein europäischer Normalfall
Die AfD ist groß geworden vor dem Hintergrund der Griechenlandkrise und danach im Zuge der immens verstärkten Einwanderung seit 2015. Sie hat Angebote unterbreitet, die von den anderen Parteien nicht vertreten wurden. Mit und in dieser politischen Marktlücke hat sie sich im deutschen Parteiensystem weitgehend etabliert. Es ist nicht davon auszugehen, dass sie auf die Schnelle wieder aus den Parlamenten verschwinden wird. Sie wird vielleicht nicht immer 20 und mehr Prozent der Wähler gewinnen, doch für die Fünf-Prozent-Hürde wird es im Regelfall reichen. Und natürlich werden sich insbesondere die Parteien des bürgerlichen Spektrums fragen müssen, wie sie es mit den „Schmuddelkindern“ vom rechten Rand halten wollen. Sie sind dabei gar nicht alleine, sondern können sich dazu mit ihren konservativen und liberalen Parteifreunden aus allen Teilen Europas austauschen. Außer in Portugal gibt es in jedem der EU-Mitgliedsländer signifikante Parteien am rechten Rand. Diese sind nur im Ausnahmefall so rechtsextrem wie die griechische Morgenröte oder die ungarische Jobbik. In der Mehrzahl der Fälle lassen sie sich dem gemäßigten Rechtspopulismus zuordnen – wie die Wahren Finnen, die FPÖ, die Lega oder eben auch die AfD. Sie spielen mit der Demokratie, aber sie wollen sie nicht abschaffen. Tatsächlich kann das Aufkommen solcher Parteien sogar zu einer Belebung der politischen Debatte beitragen. Ein Indiz hierfür sind steigende Wahlbeteiligungen.
Vielleicht sollten wir nicht das späte Weimar als Vergleichsrahmen für die Thüringer Verhältnisse bemühen, sondern das heutige Österreich. Dort sind die Freiheitlichen seit Jahrzehnten fester Bestandteil des Parteiensystems. 1999 erreichten sie 27 Prozent bei den Nationalratswahlen und traten danach in eine Rechtskoalition unter dem konservativen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel ein. Was folgte, war ein europaweiter Aufschrei, bei dem mit Vehemenz die vermeintlichen Analogien zur Nazi-Zeit in Hitlers Geburtsland bemüht wurden. 20 Jahre später lässt sich resümieren, dass Österreich eine recht stabile politische Entwicklung durchlaufen hat. Mittlerweile koalieren sogar die Sozialdemokraten in einigen Bundesländern mit der FPÖ. Diese wiederum hat sich im Verlauf von Integration und Anpassung an die politische Mehrheitskultur spürbar entradikalisiert. Das Ibiza-Video mag korrupte Strukturen offengelegt haben, offener Nazismus ist in der FPÖ aber mittlerweile verfemt. Und die Partei ist seit 1999 auch nicht mehr signifikant gewachsen. Sie hat einige Spaltungen und Häutungen hinter sich und lag bei den vergangenen Nationalratswahlen bei 17 Prozent.
Schwächen offenlegen statt prinzipiell ausgrenzen
Ganz anders in Deutschland. Aktuell wird noch in den kleinsten Gemeinderäten und selbst bei noch so unbedeutenden Anträgen eine gemeinsame Abstimmung mit der AfD tunlichst vermieden. Und wenn doch mal ein Unfall passiert, dann hallt er bis in die Bundespolitik nach. Die Partei soll ausgegrenzt, ihre Protagonisten sollen diffamiert werden. Ich halte das für kontraproduktiv. Denn damit gibt man ihnen die Möglichkeit, sich als Opfer zu stilisieren und über alle bestehenden Bruchlinien hinweg zu konsolidieren. Diese Strategie hat einen erklecklichen Anteil am Erstarken der AfD. Viel klüger wäre es, mal die Frage nach der sozialpolitischen Programmatik zu stellen und abzuwarten, wie sich die Wirtschaftsliberalen mit den Sozialromantikern in der Partei herumschlagen. Dieser unauflösbare Gegensatz hat dazu geführt, dass die AfD trotz ihrer wirtschaftswissenschaftlichen Genesis unter Lucke & Co noch immer kein Rentenkonzept verabschiedet hat. Oder wie nachvollziehbar sind die in der AfD kursierenden Theorien zum Klimawandel? Pauschale Wissenschaftsfeindlichkeit dürfte in der ehemaligen Professorenpartei jedenfalls nicht auf einhellige Zustimmung treffen. Oder wie soll das Verhältnis zwischen Kirche und Staat organisiert werden? Ist man bereit, die Religionsfreiheit insgesamt zu begrenzen, nur weil man den Islam zurückdrängen will? Oder hat man damit ein Problem, weil man eben kein radikaler Atheist ist, sondern in einem christlichen Milieu geprägt wurde.
Diese und andere Schwächen und potentiellen Spaltpilze gehen aber völlig unter im allgemeinen „Nazi“-Gebrüll und in spät-weimarer Untergangsfantasien.
Fazit
Ja. Die AfD provoziert und polarisiert. Sie wurde von Anfang an als der Paria der deutschen Politik behandelt und füllt ihre Rolle entsprechend aus. Sie wird dafür kritisiert, die Grenze des Sagbaren zu verschieben. Doch kann es von Zeit zu Zeit nicht auch sinnvoll sein, politische Dogmen auf ihren tatsächlichen Nutzwert hin zu überprüfen und die Debatten zu beleben? Das sollte einen liberalen Geist nicht erschrecken, denn die Freiheit der Rede impliziert immer auch die Möglichkeit der Gegenrede.
Wenn aktuell so häufig von einer falschen Äquidistanz zu hören ist, will auch ich an dieser Stelle keine Äpfel mit Birnen vergleichen. Deshalb soll vorangestellt werden, dass es mir ausschließlich um die Prozesse geht und nicht um die Inhalte. Der Sozialdemokrat Reinhard Höppner implementierte 1994 das sogenannte Magdeburger Modell – eine rot-grüne Minderheitsregierung toleriert von der PDS. Die bundesweite Entrüstung war damals etwa genauso groß wie aktuell in Erfurt. Wie konnte man nur mit den Kommunisten und Mauerschützen? Heute ist fast in Vergessenheit geraten, dass die PDS und später die Linke über zwei Jahrzehnte hinweg massiv ausgegrenzt wurde. Es ist gar nicht allzu lange her, dass sich die SPD mit Rote-Socken-Kampagnen durch die politische Arena treiben ließ. Und es waren auch hier zuallererst die Ossis, die einen solchen Umgang als unangemessen empfanden. In den Neuen Ländern ist das Parteiensystem deutlich volatiler, das Protestpotential ausgeprägter und die Wählerbindung geringer. Die Kompassnadeln schlagen hier nach allen Seiten stärker aus als im Westen der Bundesrepublik und so lassen sich politische Wandlungsprozesse wie in einem Brennglas beobachten.
Nun erleidet die CDU ihr Magdeburg bzw. Erfurt. Der eine oder die andere mag sich darob genüsslich zurücklehnen und den Furor von Herzen gönnen. Sie oder er wird instinktiv aber auch erahnen, dass die Geschichte mittelfristig einen ähnlichen Verlauf nehmen wird, wie seinerzeit zwischen rot-grün und der Linken. Die AfD wird bleiben und es ist eine Frage der Zeit, wann die Dämme und Brandmauern zum sogenannten bürgerlichen Lager brechen. Mehrheiten wollen genutzt werden und das Ergebnis wird eine Zähmung der AfD sein.
Der Blick zu unseren Nachbarn zeigt, dass die Erweiterung des Parteienspektrums um eine Kraft rechts von der Mitte nicht zwingend das Ende der Demokratie zur Folge haben muss. Einstmals verfemte Gruppierungen haben sich dort recht erfolgreich integriert und ergänzen nun das politische Angebot. Eine solche Entwicklung halte ich auch in Deutschland für viel, viel, viel wahrscheinlicher als das erneute Abdriften in den Nationalsozialismus.