Von Radschnellwegen und Mobilitätsketten.
Die Konzepte für eine angemessene, nachhaltige, schnelle und bequeme Mobilität werden seit Jahrzehnten mit äußerster Vehemenz debattiert. Kaum ein Thema wird derart intensiv und kontrovers besprochen, wie die Frage, auf welche Weise sich – insbesondere in den großen Metropolregionen – Menschen von A nach B bewegen sollen. Die Fronten sind verhärtet. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die ihre individuelle Mobilität als wesentlichen Teil ihrer Freiheitsrechte verstehen und das eigene Auto als deren Versinnbildlichung. Auf der anderen Seite jene, die darauf verweisen, dass Mobilität im öffentlichen Raum auch soziale und meist auch ökologische Kosten hat und daher mit einer gewissen Portion Eigenverantwortung einhergehen muss. Und in der Mitte finden sich die vielen Menschen, die sich aus rein pragmatischen Erwägungen für das eine oder andere Verkehrsmittel entscheiden bzw. entscheiden müssen.
Jedenfalls ist die Verkehrspolitik nicht zuletzt auch ein politisches Minenfeld und emotional stark aufgeladen. Einzelne Ausrutscher können ganze Wahlen entscheiden. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang an die sogenannten Magdeburger Beschlüsse der Bündnisgrünen, wonach der Liter Benzin künftig fünf D-Mark kosten solle. Die Quittung waren magere 6,7 Prozent bei den Bundestagswahlen 1998. Die Wechselstimmung und der Kohl-Verdruss haben seinerzeit nahezu ausschließlich auf das Konto der SPD eingezahlt und bis heute werden die damals geführten Debatten vom politischen Gegner gerne aufgegriffen, zitiert und instrumentalisiert. Sie prägten das Image von den Grünen als bevormundender Verbotspartei, weshalb es derartige Beschlüsse auf absehbare Zeit wohl nicht mehr in ein grünes Wahlprogramm schaffen werden. Doch abseits des Wahlkampfgetöses sei die Frage durchaus gestattet, ob es im Grundsatz nicht sinnvoll sein kann, die ökologischen Kosten des einen oder anderen Verkehrsträgers auch angemessen zu bepreisen. Das hat weniger mit Verbot als mit Fairness zu tun. Denn ganz im Unterschied zu Wärme, Strom oder auch zur Kreislaufwirtschaft tritt der Verkehr seit Jahrzehnten auf der Stelle. Die Emissionen sind noch immer so hoch wie vor 30 Jahren. Vor diesem Hintergrund erscheinen die aktuellen Emissionsziele der deutschen Bundesregierung – Reduktion um mehr als 40 Prozent innerhalb von nur zehn Jahren bis 2030 – ausgesprochen ambitioniert und werden sich ohne vergleichsweise radikale politische Umsteuerungen kaum erreichen lassen.
Das Auto und die Großstadt
Zwar sinkt die Zahl der Verkehrstoten seit Jahren recht kontinuierlich, doch spätestens seit dem vergangenen Jahr gerät ein anderer Aspekt in den Fokus von Gesundheits- und Verkehrspolitikern. Obwohl auch die Feinstaubwerte rückläufig sind, werden die entsprechenden Grenzmargen in der Vergangenheit immer strikter interpretiert, sodass viele Innenstädte nur noch mit der grünen Umweltplakette befahren werden dürfen und temporär sogar gänzlich Fahrverbote für Dieselfahrzeuge erlassen wurden. Man kann die neu erwachte Rigidität deutscher Verwaltungsgerichte oder auch die Abmahnpraxis der Deutschen Umwelthilfe durchaus kritisch hinterfragen, doch eines scheint klar. Autoabgase sind nicht nur für das Klima gefährlich, sondern schädigen auch unsere Lungen.
Ganz nebenbei kann das Autofahren mitunter auch recht unkomfortabel sein. Vermutlich würden sich viele Pendler gegen den zweimaltäglichen Stau auf den Ein- und Ausfahrtstraßen deutscher Metropolen entscheiden, wenn ihnen geeignete Alternativen zur Verfügung stünden bzw. wenn ihnen diese auch schmackhaft gemacht würden. Und tatsächlich zeichnet sich aktuell ein Trend ab, dass immer mehr Großstädter und hier vor allem jene jüngeren Alters auf das eigene Auto verzichten. Eine Folge könnte sein, dass Städte wieder mehr öffentlichen Raum für sich gewinnen und diesen nutzen können.
Kurzum. Für einen modernen städtischen Verkehr wird es nötig sein, attraktive Alternativen zum eigenen Auto zu entwickeln. Dieses hat als Transportmittel gewiss nicht ausgedient und natürlich hat die Autoindustrie als eine Schlüsselbranche der deutschen Wirtschaft etwas Rücksicht verdient, doch ab einer gewissen Siedlungsdichte erscheint das eigene Auto eher nicht als passendes Vehikel für eine nachhaltige und effiziente Mobilität.
Das europäische Radlerparadies
Genau dies war die Prämisse des hochgelobten Kopenhagener Verkehrskonzeptes. Autos wurden nicht per se verteufelt und sie lassen sich nach wie vor in Mobilitätsketten einfügen, doch in urban geprägten Regionen sollte deren Zahl zunächst einmal drastisch sinken. Der öffentliche Straßenraum wurde entsprechend umgestaltet, wobei die Siedlungsstruktur der dänischen Hauptstadt und auch ihre Topografie gewisse Vorteile bietet. Die Strecken sind flach und die Verkehrswege weit, weshalb der Fokus nicht auf dem ÖPNV, sondern vielmehr auf dem Radverkehr lag. Es war nämlich grundsätzlich möglich, den vorhandenen Straßenraum recht großzügig auf andere Verkehrsträger zu verteilen. Für den Lieferverkehr und auch für Individualreisende bestehen noch immer recht gute Möglichkeiten, mit dem Auto in die Stadt hineinzukommen. Staus sind vergleichsweise selten und Parkplätze stehen selbst in der Innenstadt reichlich zur Verfügung, können für die Dauer von maximal zwei Stunden mitunter sogar kostenfrei genutzt werden. Sehr viel teurer wird es allerdings, wenn man sein Auto über längere Zeit in der Stadt abstellen will. Aus diesem Grund verzichten mittlerweile die meisten Bewohner der Innenstadt auf das eigene Auto. Den vielen Touristen wird ohnehin empfohlen, sich auf öffentliche Verkehrsmittel zu verlassen. Für diejenigen, die mit dem Auto anreisen, stehen in der Peripherie an den Endpunkten der Metrolinien vergleichsweise kostengünstige Park & Ride-Flächen zur Verfügung.
Die Neuorientierungen in der dänischen bzw. Kopenhagener Verkehrspolitik stoßen mittlerweile auf breite Akzeptanz, doch um das Modell erfolgreich zu implementieren, bedurfte es auch harter Sanktionen. Die fast schon sprichwörtliche Rücksichtnahme der dänischen Autofahrer mag etwas mit dem eher entspannten skandinavischen Gemüt zu tun haben, ist allerdings zum Gutteil auch anerzogen. So werden Parkverstöße mit umgerechnet mindestens 70 Euro bestraft und selbst kleinere Geschwindigkeitsübertretungen kosten wenigstens 135 Euro. Hinzu kommt, dass zumindest in der Innenstadt von Kopenhagen der Parkraum intensiv überwacht wird, man also nicht pauschal damit kalkulieren kann, vielleicht doch nicht erwischt zu werden.
Das Kopenhagener Verkehrskonzept wäre allerdings nicht so erfolgreich, wenn es nur negative Anreize gegen einen bestimmten Verkehrsträger geben würde. Gleichzeitig wurde ein anderer extrem gefördert – das Fahrrad. Während dem Radverkehr in der deutschen Verkehrspolitik und Städteplanung bis vor wenigen Jahren noch maximal die Rolle eines Freizeitvergnügens zugeordnet wurde, hatte man in Dänemark die Potentiale dieses ökologischen, gesunden, sicheren und durchaus auch effizienten Verkehrsmittels deutlich früher erkannt. Schon in den 1980er Jahren wurde mit dem Bau eines nahezu flächendeckenden Radwegenetzes begonnen. Dabei setzte sich die Radfahrerlobby intensiv dafür ein, insbesondere die direkten Stadt-Umland-Verbindungen mit leistungsfähigen Radwegen auszustatten. Dieses Konzept bildete die Grundlage für die heutigen Radschnellwege. Ziel war es eben nicht, den Radverkehr auf die Nebenstraßen zu verbannen, sondern eine in Schnelligkeit und Bequemlichkeit vergleichbare Alternative zum Auto zu schaffen. Mittlerweile können selbst Freizeitradler auf den Relationen im Radius von fünf bis 15 Kilometern rund um die Innenstadt Durchschnittsgeschwindigkeiten von bis zu 20 Stundenkilometern erreichen. Die Beschaffenheit der Radwege gibt das her. Sie sind im Schnitt doppelt so breit wie in Deutschland – einige sogar bis zu vier Meter – und kommen nahezu ohne Absenkungen sowie Unebenheiten aus. Auch die Verkehrssteuerung ist auf den Radverkehr ausgerichtet. Auf den Schnellstrecken werden die Ampelphasen so geschaltet, dass sich mit einer mittleren Geschwindigkeit von 18 Stundenkilometern eine grüne Welle ergibt. Seit dem Jahr 1996 investiert die Stadt massiv in die Sicherheit. Haltelinien für Autos wurden nach hinten versetzt, flächendeckend Radfahrerampeln installiert und unfallträchtige Kreuzungen entschärft. Auf diese Weise ist es gelungen, die Zahl der Unfälle um mehr als 70 Prozent zu reduzieren.
Seit einigen Jahren schon konzentriert sich die Radverkehrsplanung nicht mehr nur auf die Bewohner der Hauptstadt, sondern nimmt auch die Pendlerbewegungen ins Visier. Langfristige Zielsetzung ist es, etwa ein Drittel der Pendlerströme auf das Fahrrad zu verlagern. Dazu wurde und wird eine regelrechte Infrastruktur geschaffen. Dies betrifft natürlich Radwege und Signalanlagen, aber auch Parkhäuser, fest installierte Luftpumpen an der Strecke oder Fußstützen vor Ampeln.
Seit dem Jahr 2010 ist die Fahrradmitnahme in der Kopenhagener S-Bahn kostenlos. Dazu wurden die Kapazitäten in den Zügen deutlich ausgeweitet sowie an den großen Bahnhöfen ausreichende und sichere Parkmöglichkeiten geschaffen. Auch die Metro sowie Lokal- und Regionalzüge bieten – gegen Aufpreis – die Möglichkeit zur Fahrradmitnahme. Und selbst die Taxis sind verpflichtet, einen Fahrradträger anzubringen, um Fahrgäste samt ihrem Fahrrad befördern zu können.
Warum nicht auch in Deutschland?
Insgesamt stieß das Kopenhagener Verkehrskonzept international auf sehr wohlwollende Beachtung. Stadtplaner und Verkehrsexperten aus allen Teilen der Welt reisen mittlerweile regelmäßig in die dänische Hauptstadt, um von den dort gemachten Erfahrungen zu profitieren. In Kopenhagen ist es gelungen, das Fahrrad zum Massenverkehrsmittel werden zu lassen, welches auch von älteren Bürgern intensiv genutzt wird – mit den entsprechenden Auswirkungen für die Feinstaubbilanz, für die Verkehrsbelastung oder den Lärmpegel. Zudem konnte ganz offenkundig auch die Verkehrssicherheit für Radfahrer deutlich erhöht werden. Im Schnitt müsste man etwa fünf Millionen Kilometer radeln, um in der dänischen Hauptstadt einen schweren Verkehrsunfall zu erleiden – Werte, die für andere europäische Metropolen geradezu illusorisch erscheinen.
Aktuell stößt der Radverkehr in Kopenhagen jedoch an seine Kapazitätsgrenzen und so bilden sich zu den Stoßzeiten lange Schlangen an den Fahrradampeln. Mitunter müssen mehrere Ampelphasen abgewartet werden, ehe man endlich hinüberkommt. Die dänische Hauptstadt verfügt über recht breite Straßen, was vor allem im Vergleich zu südeuropäischen Städten einen immensen Vorteil bietet, doch auch hier wird der Platz langsam eng. Dass der Autoverkehr darunter leidet, mag man noch goutieren. Die Ausbreitung der Fahrräder geht aber auch zu Lasten der Fußgänger, wovon besonders mobilitätseigeschränkte Personen betroffen sind. Und auch die Gastronomie besitzt deutlich weniger Möglichkeiten, sich auf öffentliches Straßenland auszudehnen.
Insgesamt jedoch könnten sich auch deutsche Metropolen Einiges vom dänischen Vorbild abschauen. Denn auch bei uns sind die grundsätzlichen Voraussetzungen gegeben. Eine gewisse Affinität zum Fahrrad, eine meist flache Topografie und vergleichsweise breite Straßen. In der Stadt Münster mit ihren mehr als 300.000 Einwohnern funktioniert das schon. In der unbestrittenen Fahrradhauptstadt Deutschlands werden mehr als ein Drittel der Wege mit dem Rad absolviert. Die großen deutschen Metropolen Berlin, Hamburg, München, Köln oder Frankfurt sind von solchen Zahlen jedoch weit entfernt. Obgleich die topografischen und siedlungsgeografischen Voraussetzungen auch dort gegeben sind, wurden nirgendwo derart radikale verkehrliche Umgestaltungen vorgenommen wie in der dänischen Hauptstadt. Dieser Umstand lässt sich sicherlich nicht zuletzt mit dem enormen Prestige begründen, welches das Auto hierzulande noch immer genießt. Die deutschen Verkehrsplaner waren viel zu lange dem längst überholten Wahlspruch der autogerechten Stadt verhaftet und haben neue Impulse schlichtweg verschlafen. In der Praxis hat sich an den Verkehrskonzepten der großen Metropolen in den vergangenen Jahrzehnten erstaunlich wenig verändert. Weder wurde massiv in den ÖPNV investiert, noch der Radverkehr protegiert. Es ging und geht noch immer im Wesentlichen um die Fortschreibung des Status Quo. Gedreht wird maximal an einzelnen Stellschrauben. Dann spricht man über Abbiegeassistenten bei Lkw, die eine oder andere P & R-Fläche, Umweltplaketten, Monatskartentarife, rechtsabbiegende Radfahrer, aber nie über das große Ganze. Dieses pragmatische Steuern auf Sicht mag seine Vorteile haben, doch zumindest ein einzelnes Schaufenster städteplanerischer Ideen stünde der Bundesrepublik schon gut zu Gesicht. Bis dato jedenfalls wird eher reagiert, als aktiv Akzente zu setzen. Die sinkende Attraktivität des Autos für Großstädter jüngerer Alterskohorten, die neue E-Scooter-Welle, die zunehmende Präsenz von Car-Sharing-Anbietern oder auch der wachsende Fahrradverkehr lassen sich allesamt den äußeren Impulsen zurechnen. Eine konsistente Stadtplanung und Verkehrssteuerung ist nicht zu erkennen. Das ist auch deshalb schade, weil in vielen deutschen Metropolen die dazu notwendigen politischen Mehrheiten vorhanden wären, weil derartige Konzepte wohl weniger als Bevormundung aufgefasst würden, sondern eher als Versuch einer aktiven und gemeinschaftlichen Zukunftsgestaltung. Letzteres hat in Deutschland übrigens eine lange Tradition. Das Bauhaus, der soziale Wohnungsbau oder auch die Idee, jedermann eine gewisse individuelle Mobilität zu ermöglichen, sind allesamt deutsche Erfindungen. Niemand verlangt, dass das Vorbild Kopenhagens nun eins zu eins auf deutsche Metropolen angewandt wird. Andere Ansätze betonen eher den Öffentlichen Personennahverkehr, wollen effiziente Mobilitätsketten ermöglichen oder setzen auf die shared economy. Im Hinblick auf die letzteren beiden Punkte darf dann durchaus auch das Auto wieder eine Rolle spielen. Doch wie auch immer. Man wünschte sich, dass zumindest eine deutsche Metropole ein paar Schritte nach vorn tritt und mutige Konzepte für die Mobilität der Zukunft präsentiert. Das beinhaltet die Gefahr des Scheiterns, kann bei gutem Gelingen aber auch zu einem weltweiten Prestigegewinn und nicht zuletzt zu mehr Lebensqualität führen. Doch vielleicht werden die in München geplanten Straßenseilbahnen, die regionale Integration im Rahmen der Rhein-Ruhr 2032-Initiative oder das Berliner Radverkehrskonzept dereinst diese Leerstellen gefüllt haben.