Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben – Kristen R. Ghodsee

Zum Schluss die ausführliche Leseempfehlung des „Rezensenten vom Dienst“, der gern von seinen kommunalen Themenpfaden abweicht und seinem „Affen Zucker gibt“.

Viele, die in diesem Blog die „Lesetipps“ anklicken, kennen den Rezensenten nicht nur aus den Gefilden von Daseinsvorsorge und Kommunalwirtschaft. Sondern auch als Büchernarren, für den es keine thematischen Tabus gibt. Das wissen die treuen Leser der vielen Rezensionen, die ich über lange Jahre für meine Zeitschrift UNTERNEHMERIN KOMMUNE geschrieben habe. Diese Publikation ist Geschichte. Der gleichnamige Blog ist nicht der Nachfolger, sondern ein eigenständiges Medium.

Aber ohne Konstanten gibt’s keine Identität. Die integrative Kraft des Buches ist doch nicht das schlechteste Bindeglied zwischen alter Zeitschrift und neuem Blog. Also habe ich freudig zugesagt, den Blog in ehrenamtlicher Mission mit meinem Leseempfehlungen zu begleiten. Ich erinnerte mich daran, dass meine Buchvorstellungen in der Zeitschrift oft mehr Resonanz „produziert“ haben, als die mit Schweiß und Verzicht auf Nachtschlaf zu Papier gebrachten Artikel zur Daseinsvorsorge.

Viele Nachfragen zum „Schicksal“ meiner gedruckten Buchbesprechungen haben mich motiviert, mit meinen Rezensionen nun dort weiterzumachen, wo ich vor zwei Jahren Schluss gemacht habe. Man soll eben niemals nie sagen…

Warum ein Rezensent auf geniale Buchtitel abfahren darf

Witzig, provokant, doppelbödig: Der Buchtitel meiner Auftaktrezension für den neuen Blog hatte mich einfach vom Hocker gerissen: „Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich“.

Ähnlich elektrisiert hatte mich kurze Zeit später auch die folgende Zeile: „Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben“. Dass das eine These ist, erkennen Sie unschwer am fehlenden Fragezeichen. Kommunaler Bezug geht immer. Rügen war immerhin ein eigenständiger Landkreis (jetzt fusioniert mit Vorpommern). Und natürlich hat Sex eine lokale Dimension. Er findet ja nicht im luftleeren Raum, sondern immer vor Ort statt. Wenn nicht in Wald und Feld, dann auf kommunalem Terrain.

Wenn ich einmal dabei bin, Argumente an den Haaren herbei zu ziehen, muss ich verdammt aufpassen, dass ich nicht zur Lachnummer werde oder die zu schnellem Aufschrei neigende Internetgemeinde zu sehr erzürne. Denn ich könnte ja in meiner Eigenschaft als Autor der Definition zur Daseinsvorsorge im Gabler Wirtschaftslexikon jetzt den Vorschlag machte, Sex in den Kanon der Daseinsvorsorge einzureihen. Direkt vor Trinkwasser und gleich nach Öffentliche Sicherheit. An der gesellschaftspolitischen Relevanz traut sich spätestens seit den 1968ern und der dort gestarteten „Sexuellen Revolution“ niemand zu zweifeln.  

Gründe mehr als genug, diesen Buchtitel, in den Kommunalblog zu hieven. Da muss ich nicht mal meine realsozialistische Sozialisation bemühen. Nach der Lektüre war mir klar. Lesen reicht nicht. Über dieses Buch muss ich für Sie auch etwas schreiben.

Erschienen ist es Ende 2019 in der Suhrkamp Edition. Die Autorin, Kristen R. Ghodsee, Jahrgang 1970, ist Professorin für Russische und Osteuropäische Studien an der University of Pennsylvania, und spaltet ihre Leserschaft schon mit wenigen, höchst provokanten Sätzen auf dem Rücktitel: „Unregulierter Kapitalismus ist schlecht für Frauen… Richtig umgesetzt, führt Sozialismus zu wirtschaftlicher Unabhängigkeit, besseren Arbeitsbedingungen, einer ausgewogeneren Balance zwischen Arbeit und Familie und, genau, sogar zu besserem Sex. Wenn diese Sätze ihr Interesse geweckt haben, dann kommen Sie mit mir auf eine Erkundungsreise, wie wir etwas verändern könnten. Wenn Ihnen piepegal ist, was Frauen für ein Leben haben, dann sparen Sie sich Ihr Geld: Das hier ist kein Buch für Sie.“

Erstaunliche Übereinstimmungen (beim Sex) zwischen dem reformkapitalistischen Skandinavien und den verblichenen staatssozialistischen Ländern Osteuropas

Integraler Teil der sozialistischen Idee ist, so die Autorin, die Beseitigung der ökonomischen Abhängigkeit der Frauen, und zwar im gesamtgesellschaftlichen Maßstab ebenso wie in der Familie. Die empirischen Belege dafür liefert Ghodsee für zwei Ebenen: zum einen für staatssozialistische Strukturen in Ländern Osteuropas (u.a. Bulgarien, DDR, Polen, Tschechoslowakei) und zwar in bemerkenswerter Differenziertheit: „Natürlich“, so Ghodsee, „ist es wichtig, die staatssozialistische Vergangenheit nicht zu verklären. Doch sollten wir angesichts der hässlichen Realitäten die Ideale der frühen Sozialisten ebenso wenig vergessen wie die verschiedenen Anläufe, das System von innen zu reformieren (etwa den Prager Frühling…)“ (S. 50).

„Gegner des Sozialismus verunglimpfen den sogenannten Real- oder Staatssozialismus als ein zum Scheitern verurteiltes Wirtschaftssystem, das unweigerlich in totalitärem Terror mündet, und übersehen dabei geflissentlich die erfolgreichen demokratisch-sozialistischen Länder Skandinaviens. Dänemark, Schweden und Finnland widersetzten sich dem weltweiten neoliberalen Trend und hielten daran fest, mit Industrien im Staatseigentum und einer progressiven Besteuerung hohe Staatsausgaben zu finanzieren“ (S. 51). Ghodsee wertet dies als humane Alternative zum neoliberalen Kapitalismus und stellt fest, dass es in Nordeuropa gelungen sei, die politischen Freiheiten des Westens mit der sozialen Absicherung des Ostens zu verbinden. „In Nordeuropa“, so Ghodsee, „leben nicht nur die glücklichsten Menschen der Erde, es ist auch eine Oase für Frauen, sind diese dort wirtschaftlich und politisch doch bessergestellt als irgendwo sonst auf der Welt“ (S. 52). Ihr Argument lautet: Für Männer auf der Suche nach schnellem Sex sei Dänemark die reinste Wüste. Denn das engmaschige soziale Netz und die Gleichstellungspolitik des Landes sorgen offenbar dafür, dass die Verführungsmethoden des Alpha-Männchens wirkungslos sind, denn dänische Frauen brauchen zu ihrer finanziellen Absicherung keine Männer. Verdienen Frauen selbst und leben in Gesellschaften, in denen der Staat sie in ihrer Unabhängigkeit unterstützt, dann büßt der Märchenprinz seine Anziehungskraft ein, so die Soziologin.

Im realen Kapitalismus aber würden Frauen als Arbeitskräfte weiterhin diskriminiert. Der komparative Kostenvorteil von Frauen in der Arbeitswelt bestehe darin, dass sie die gleiche Arbeit wie ein Mann leisten, aber für weniger Geld. Noch verschärft werde das Problem durch das Konzept des „Familienlohnes“. Als Frauen massenhaft in die Industriearbeiterschaft drängten, wurden ihnen Löhne gezahlt, mit denen sich nur der Lebensunterhalt der Einzelperson bestreiten ließ, nicht jedoch der einer Familie. Der Kapitalismus reduziere Frauen auch heute noch vielfach als Arbeitnehmerinnen auf den Status wirtschaftlich Abhängiger und betrachte sie als bewegliches Vermögen, das zwischen den Familien gehandelt werden könne.

Gleichberechtigung inklusive guter Sex nur durch gesellschaftliche Unterstützung bei Kindererziehung

Die wichtigste Schlussfolgerung besteht für Ghodsee darin, dass Gleichberechtigung nur durch die umfassende gesellschaftliche Unterstützung bei der Kindererziehung gewährleistet werden könne. Auch dies kann die Soziologin empirisch stützen. Sie verweist auf die Ergebnisse einer weltweiten Umfrage zu Sex, die mit einer unabhängigen Messung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern korreliert wurden. Es konnte gezeigt werden, dass wirtschaftliche Chancen für Frauen zu freierem Sex führen. Natürlich gibt es auch deutsch-deutsche Befunde. Die Autorin verweist auf die erste vergleichende Selbstberichtsstudie zu den sexuellen Erfahrungen ost- und westdeutscher Studentinnen aus dem Jahr 1988 (Kurt Starke / Ulrich Clement). Ergebnis: die ostdeutschen Frauen genossen ihren Sex mehr und berichteten über eine größere Orgasmushäufigkeit. „Schließlich wurden die Teilnehmer einer weiteren Studie auch gefragt, ob sie nach dem Sex glücklich gewesen seien. Von den ostdeutschen Frauen bestätigten das 82 Prozent, von den westdeutschen Frauen hingegen nur 52 Prozent“ (S. 199).

Gleichberechtigung und wirtschaftliche Unabhängigkeit sind für das Gros der Frauen auf unserem Globus – da gibt sich die Professorin aus Pennsylvania keinerlei Illusionen hin eine Utopie. Schlechter Sex also für immer?

Das Fazit:

Hier fällt dem Rezensenten der Marxsche Sinnspruch ein, dass die Theorie zur materiellen Gewalt wird, wenn sie die Massen ergreift. Von der Vorstellung, dass damit weltrevolutionäre Bewegungen in Gang gesetzt werden können, hat sich der klügere Teil der Menschheit aus guten Gründen verabschiedet. Der Rezensent hat sich aus Überzeugung eingereiht.

Wurde aber je die Frage gestellt, welche Kräfte der legitime Wunsch nach erfülltem Sexualleben bei den Frauen unseres Globus freisetzen könnte? Rund 7,5 Milliarden Menschen leben auf der Erde, davon wiederum 3,75 Milliarden Frauen. Nehmen wir davon noch einmal 50 Prozent, denen das Thema wichtig sein könnte, so landen wir bei einem revolutionären Potenzial von immer noch fast zwei Milliarden. Wir sind sicher, dass diese Frauen und Mädchen ohne die Gewalt von „Kalaschnikows“ auskämen, und sich des Mottos „make love, not war“ besännen. Welch romantische Vorstellung. Ein glücklicher Planet, ohne, dass dafür auch nur ein einziger Tropfen Blut vergossen werden müsste.

Guter Sex für alle. Das ist das einzige Motiv für einen weltrevolutionären Umschwung, dass ich gelten lassen könnte. Ich wünsche dem Buch von Kristen R. Ghodsee massenhafte Verbreitung…

Rezensent:
Prof. Dr. Michael Schäfer

Kristen R. Ghodsee: Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben
Edition Suhrkamp, Suhrkamp Verlag Berlin
Auflage 2019
ISBN: 978-3-518-07514-2
www.suhrkamp.de

Bewertung

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2 Kommentare zu „Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben – Kristen R. Ghodsee“

  1. Gunter-E.Hackemesser

    Jetzt weiß ich fast Bescheid, wenn auch dieser Nutzen von mir recht spät erkannt wurde. Da ich relativ oft mit meinem erstaunlichem Halbwissen kokettiere , sind die von Prof.Dr.S. dem Buch entnommenen konzentriert vorgestellten und kommentierten Erkenntnisse für mich altersgemäß ausreichend , interessant und: ich habe die Rezension gern gelesen .Das Experiment Sozialismus pausiert schließlich und auch altersgemäß reichen meine praktischen Erinnerungen an Obgartel, Schnabel , an die Junge-Welt Sexokologin, und dem Spät-SEX-Berater und Pol.Ök.Assistenten aus dem Roten Kloster in Leipzig, Kurt Starke , durchaus aus . Meine größte Freude und hohen Lustgewinn verdanke ich nach dem Lesen dieser Rezension der Tatsache : Micha S. ist geistig und schreibgewandt noch da und rezensiert endlich wieder :klug, originell, die Sparsamkeit unterstützend und unterhaltend ,. was will der alternde Freund mehr ?

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