Literaturkalender 2023

Weil er so gut ist, ist (fast) alles erlaubt: Sogar das Rauchen auf dem Titelbild!

Von 1990 bis 2014 habe ich im Brandenburgischen Panketal gewohnt, 50 Meter hinter der Berliner Stadtgrenze. Die Hauptstadt begann dort mit dem Ortsteil Buch, und wie der Name schon sagt, konnte es gar nicht anders sein, dass in dieser zu Pankow gehörenden Siedlung meine Lieblingsbuchhandlung beheimatet war. Ihr Name: „Buchladen in Buch“. Das Motto: „Was ich schon immer lesen wollte, und doch wieder verschenke“. Nur Bibliophile, die diesen Wahlspruch konsequent umsetzen, ermöglichen im digitalen Zeitalter die Fortexistenz deutscher Buchhändler. Ich reihe mich da ein. Es war mir immer eine fast diebische Freude, dem Inhaber, Michael Kowarsch, die Notizen zu überreichen, die ich mir im größten „Laden“ dieser Art in ganz Deutschland (Insider wissen, welche Einrichtung in der Mitte der Bundeshauptstadt ich meine) gemacht hatte. Dort holte ich mir beim Stöbern in den wirklich gewaltigen Bücherbergen Appetit. „Gegessen“ wurde aber stets und ständig im Berliner Norden.

2014 sind wir in den Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg gezogen. Eine meiner ersten „Amtshandlungen“ bestand darin, eine neue Lieblingsbuchhandlung zu suchen. Gleich um die Ecke, in der Welserstraße, wurde ich fündig. Der Inhaberin, Johanna Hochhuth-Binger halte ich seitdem die Treue. Natürlich gibt es auch dort, also im früheren Westberlin, den nunmehr deutschlandweiten Doyen der Literaturkalender, die Edition von Aufbau, ein wahrlich kosmopolitisches Ostprodukt. Die „Frankfurter Allgemeine“ attestierte: „Ein Standardwerk seiner Zunft“. Wahrlich: ein Ritterschlag.

Ich war 14 als der Almanach, der mit Prosa und Lyrik, nationalen und internationalen Autoren dem Jahr eine literarische Struktur gab, zum ersten Mal erschien. Dass ich ihn erst – obwohl viele Titel von Aufbau, die zu DDR-Zeiten erschienen sind, in meinem Bücherschrank stehen – nach der Wende zur Kenntnis nehmen durfte, hat definitiv etwas damit zu tun, dass Kalender im realen Sozialismus ausnahmslos zur Kategorie „Bück-Dich-Ware“ gehörten. Diesen Terminus verstehen nur Ossis: die begehrten und deshalb raren Güter lagen eben nicht auf, sondern in kleinsten Mengen unter dem Ladentisch. Der Verkäufer musste sich  bücken, um sie hervorzuzaubern. Das geschah vornehmlich auf konspirative Weise. Der Laden musste möglichst leer sein, um nicht Begehrlichkeiten zu wecken, die schlichtweg aus Mangel an Produkten nicht für alle zu befriedigen waren. Da ich den Literatur-Kalender aber nicht kannte, habe ich folglich auch nicht danach verlangt. Den folgenden Kalauer kennt jeder ostdeutsche Fischverkäufer: „Aal soll in der DDR knapp gewesen sein? Das kann ich nicht bestätigen. In meinem Laden hat nie einer danach gefragt!“

Späte Lieben sind oft besonders innig. Das gilt komplett für meine Liaison mit dem Aufbau Literatur Kalender. Da ich die ersten Jahre meiner „Braut“ nicht aus eigener Erfahrung kenne, darf ich ausnahmsweise aus dem kleinen Text zitieren, der zur 50. Jubiläumsausgabe – das war der Kalender 2017 – formuliert wurde: „Vor 50 Jahren erschien der erste Literaturkalender des Aufbau-Verlags, herausgegeben von Jürgen Jahn und gestaltet von Rudolf Grüttner. 21 Jahre lang zierte das Titelblatt die Initiale „L“ in immer neuen Formen. Kurz nach der Wende traten Fotos von Lesenden, dann Collagen und schließlich Porträts berühmter oder noch nicht entdeckter Autorinnen und Autoren an die Stelle der Initiale. Die Schrift wurde immer wieder modernisiert, doch inhaltlich blieb sich der Kalender treu. 2005 wurde die bis heute bestehende Struktur der Wochenblätter eingeführt: Eine Kombination aus Autorenbild, einer Leseprobe oder einem und eine biografische Notiz. Seine immer neue Frische aber bezieht der Aufbau Literatur Kalender aus der Literaturbegeisterung all jener, die an seiner Entstehung mitwirken. Vor allem ihnen sei an dieser Stelle gedankt, ebenso wie den Lesern, die ihm zum Teil seit 50 Jahren die Treue halten.“

Der Aufbau Literaturkalender ist seit über einem Jahrzehnt die einzige Konstante in meinen Rezensionen. Immer mit dem Hinweis, dass sich eine solche Edition den klassischen Elementen einer Buchbesprechung weitgehend entzieht. Deshalb kann ich beim 56. Jahrgang, also der Ausgabe für 2023, mit dem Fazit beginnen, dass selbige ebenso grandios ist wie ihre Vorgängerinnen. Natürlich treffen wir auf den 52 Monatsblättern Namen, die den Leseratten vertraut sind: Sandor Petöfi, Susan Sonntag, Haldor Laxness oder Annette von Droste-Hülsoff, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Autoren von Weltgeltung werden aber eben auch nicht nur einfach mal wieder aufgerufen. Nein, wir haben die Chance, an ihnen neue Seiten zu entdecken, zum Beispiel ein kleines sehr lyrisches Naturgedicht von Annette Droste-Hülsoff. Ich habe einfach mal durchgezählt. 16 der Autoren, die 2023 je ein Kalenderblatt bekommen haben, kenne ich. Das heißt aber auch, ich kann mich auf 36 wertvolle Tipps der Literaturkenner von Aufbau freuen. So etwa auf Gabrielle Roy. Die 1909 als jüngstes von elf Kindern in der kanadischen Provinz Manitoba geborene Schriftstellerin sei, so die Kalendermacher, die Grande Dame der modernen kanadischen Literatur. Von ihrem Welterfolg „Gebrauchtes Glück“ habe ich ebenso wenig gehört wie von der Verfasserin.

Der Titel ist lieferbar. Erschienen bei Aufbau, 455 Seiten kosten 24 Euro. Meine Bestell-E-Mail an Johanna, meine eingangs Inhaberin der Gutenberg-Buchhandlung – bei flottem Schritt brauche ich von meiner Wohnung fünf Minuten – ist schon raus. Kanada ist mein Sehnsuchtsland. Ich bin mir sicher, Sie werden ebenfalls von den sechs Zeilen zu diesem Titel auf dem Wochenblatt 26 inspiriert und motiviert.

Für diesen Text zum Kalender 2023 habe ich ganz ohne Plan die eine oder andere Seite einfach aufgeschlagen und angelesen. Die richtige Freude und damit auch weitere Anregungen und Aha-Erlebnisse folgen. Monat für Monat. Wenn er beginnt, und das neue Blatt umgeschlagen wird, wird es auch sofort gelesen. Auf dieses Ritual freue ich mich jedes Jahr neu. Auch das ist ein guter Grund, noch etliche Jährchen halbwegs gesund und fit im Kopf auf dieser Erde zu weilen.

 

Aufbau Literatur Kalender 2023

Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2022

www.aufbau-verlag.de

Ihnen hat dieser Beitrag gefallen? Dann teilen Sie diesen doch gerne mit Ihren Freunden oder hinterlassen Sie einen Kommentar auf dieser Seite.

Facebook
Twitter
LinkedIn

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Der Blogger

Professor Dr. Michael Schäfer

Prof Dr. Michael Schäfer

Rubriken

Kategorien

Begriffe

Die wichtigsten Termini zum Blog – Vom Blogger für das Gabler Wirtschaftslexikon definiert und per Klick dort verfügbar!

Lexikon kommunal

Die wichtigsten Gegenstände des Blog – Vom Blogger in pointierten  lexikalischen Artikeln erläutert und per Klick erreichbar!

Nach oben scrollen