Die Moskauer. Wie das Stalintrauma die DDR prägte
Für meine Buchbesprechung bedarf es eine etwas längeren Vorbemerkung. Der Rezensent hat allein oder als Mitautor mehrere wissenschaftliche Bücher und rund 30 Studien verfasst. Er musste dafür nie öffentliche Fördertöpfe in Anspruch nehmen, sondern war Dank eigener Durchsetzungskraft und der Weitsicht von Unterstützern außerhalb des staatlichen und politischen Sektors in der glücklichen Lage, wichtige Themen seines Fachgebietes nach objektiver Relevanz und nicht dem oft subjektiven „Wohlwollen“ von Vergabegremien zu bearbeiten.
Allerdings wurde ich in den vielen Jahren wissenschaftlicher Betätigung immer wieder Augen- und Ohrenzeuge, wenn gut begründete Anträge von Kollegen für längst überfällige Forschungsarbeiten durchs Sieb fielen. Gerade auch zu kommunalen und kommunalwirtschaftlichen Themen. Das ist mein Metier. Deshalb kann ich sachlich und objektiv beurteilen, was wichtig ist und gebraucht wird. Mein Fazit: Gerade beim öffentlichen Support der genannten Themen (ich erweitere diese Aussage aber mit gutem Gewissen auf den gesamten Bereich der Geisteswissenschaften) gibt es viel Subjektivismus, wenig Mut zum Risiko und die Dominanz von Erbhöfen – bei den Themen, wie den Protagonisten.
Diese Wertung gilt mithin auch für die Forschungen zur DDR, von denen das Gros auf öffentliche Finanzierung angewiesen ist. Wer diese Kolumne liest, ist interessiert und informiert. Hand auf’s Herz. Wieviel Namen und Gesichter, die Sie aus Beiträgen in den angesagten Printmedien und Talk-Shows zu diesem Thema kennen, fallen Ihnen jetzt spontan ein? Ich würde darauf wetten, dass die Zahl einstellig ist, und die meisten davon eine westdeutsche Vita haben. Das ist doof, denn wider alle Vorurteile gibt es genügend ostdeutsch sozialisierte Historiker, Politologen, Ökonomen und Soziologen, die hohes akademisches Niveau mit dem unstrittigen Vorzug verbinden, die Dinge im besten Wortsinn erlebt zu haben. Wie es vergeigt wurde (und immer noch wird), dieses Potenzial für objektive wissenschaftliche Bestandsaufnahmen zu nutzen, hat in der „Berliner Zeitung“ der gleich drei Mal promovierte und natürlich auch habilitierte ostdeutsche Historiker Ulrich van der Heyden, geboren 1954 in Ueckermünde, im Rahmen der großen Serie des Blattes zum 30. Jahr der Wiedervereinigung beschrieben. Seine Geschichte ist, auch das kann ich objektiv beurteilen, leider exemplarisch (Ulrich van der Heyden: „Elitenaustausch“, „Berliner Zeitung, 12. August 2020, S. 3).
Andreas Petersen, der Autor von „Die Moskauer“, nun sind wir beim Buch, wurde 1961 in Köln geboren. Er studierte Allgemeine und Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich. Sein Buch wurde von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert.
Petersen war mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht unter den Damen und Herren, die Ihnen bei meiner Frage zu den „Gesichtern“ der DDR-Forschung eingefallen sind. Was jammerschade ist. Denn dieser Autor hätte schon deshalb einen Platz dort verdient, weil er im Gegensatz zu manch Anderen tatsächlich einen objektiven, stimmigen und Ursachen identifizierenden Report darüber geschrieben hat, wie und warum der Stalinismus die DDR so nachhaltig geprägt hat. Und zwar eben nicht nur bis zur berühmten Geheimrede, die der damalige 1. Sekretär Nikita Chruschtschow am 25. Februar 1956 in Moskau unter dem Titel „Über den Personenkult und seine Folgen“ zum Abschluss des 20. Parteitages der KPdSU gehalten hat.
Im Grundsatz stalinistisch waren die SED und mithin die DDR tatsächlich bis zum Ende ihrer Existenz, was auch einige geschichtsvergessene Linke west- und ostdeutscher Herkunft endlich zur Kenntnis nehmen sollten. Und wir reden – auch das muss wegen der gebotenen semantischen Präzision explizit erwähnt werden – von den elementaren Grundsätzen, also dem Wesen des Stalinismus. Das sind in erster Linie die Ersetzung der demokratischen Meinungs- und Willensbildung in Partei und Staat von unten durch befehlsähnliche Kommandostrukturen und deren Konzentration in einer einzigen „Zentrale“, in der eine einstellige Zahl von Funktionären das Sagen über Millionen von Parteimitgliedern und letztlich alle Bürger hat.
Die umfassende physische Gewaltausübung gegen Gegner dieses Systems (oder gar wie in der UdSSR bis in die 50er Jahre praktiziert gegen Hunderttausende der Partei treu Ergebene) ist eine unfassbare, perverse Spielart des Stalinismus, aber letztendlich eine Erscheinung, die durch die Demokratieabschaffung und die Konzentration der gesamten Macht in einer übermächtigen Zentrale erst möglich wurde.
Den Boden für diese und weitere Einschätzungen hat der „Wessi“ Andreas Petersen mit seinen exzellenten Analysen und Befunden in „Die Moskauer“ bereitet. Sie sehen, die Ost- oder Westsozialisierung von Autoren ist natürlich kein Qualitätskriterium. Und sie sehen auch, dass die von mir wegen ihrer häufigen Einäugigkeit oft kritisierte Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur selbstverständlich auch Projekte von Gewicht und Qualität hervorbringt. „Die Moskauer“ – hier ist unser Steuergeld wahrlich gut angelegt!
Das, was Andreas Petersen dort beschreibt, ist belastbar, ist faktenreich, ist überzeugend. Lesen Sie unbedingt auch die Anmerkungen und die Literaturliste, denn diese dokumentieren auch, wie umfassend der Autor zu seinem Thema gearbeitet hat. Sehr schade, dass im Anhang ein Personenregister fehlt. Das ist in diesem Werk schon wegen der Vielzahl der dort genannten Namen ein wissenschaftliches Muss.
Die bis zum Zusammenbruch der DDR im Jahr 1989 wirkende Stalinisierung der KPD beginnt bereits Anfang der 20er Jahre. In Stein gemeißelt, und damit im fiesesten Sinne „nachhaltig“, wird sie mit der Emigration der meisten deutschen Kommunisten Ende der 20er bis Anfang der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts in „das gelobte Land“ Sowjetunion.
Dort kam es schnell zu einer gerade zu perversen Selektion. Eine sehr kleine, ja marginal zu nennende Zahl, wurde zu willfährigen Handlangern des Meuchelmörders Stalin. Eine unfassbar große zu Opfern, die mit erlogenen „Beweisen“ sofort hingerichtet oder im Gulag zu Tode gequält wurden. Nur wenige überlebten. In der UdSSR kamen mehr deutsche KPD-Genossen um als in den Konzentrationslagern der Nazidiktatur!
Petersen beschreibt, wie eine Handvoll deutscher „Kommunisten“ mit großem Eifer „Fakten“ erfinden und den für die KPD-Emigranten zuständigen Sektionen der Vernichtungsmaschinerie des NKWD als „Begründung“ zuliefern: „Aktenlage“ zur physischen Vernichtung von Zehntausenden ehrlicher und anständiger Parteimitglieder.
Dass diese wenigen Schreibtischtäter mit dem KPD-Parteibuch nach getanem Vernichtungswerk genauso gemeuchelt wurden, wie die Mörder des sowjetischen Geheimdienstes, hat mit Gerechtigkeit und Sühne natürlich nichts zu tun.
Der Autor kann nicht bis ins letzte Detail belegen, dass die KPD-Genossen an der Parteispitze, in erster Linie Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck, diese Vorgänge in allen Einzelheiten und für jeden ihrer Genossen kannten. Das ist kein Manko des Buches. Denn vieles wurde zum Schutz der Täter nicht dokumentiert, oder die Akten später geschreddert. Aber Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass die Spitzengenossen der KPD diese Vorgänge in ihrer Zielsetzung und Struktur bestens kannten. Und ebenso offenkundig ist, dass deren grundsätzliche Einbindung in diesen Vernichtungsfeldzug gegen die eigenen Klassengenossen der Garantieschein dafür war, dass sie selbst den Stalinschen Terror überlebten. Ihre Mitwisser- und letztlich auch Mittäterschaft war auch der Grund dafür, dass sie auserkoren wurden, den „Sozialismus“ in der DDR aufzubauen. Mit dieser Mission kehrten sie 1945 in den Osten Deutschlands zurück. Tief in ihnen verwurzelt waren die Mechanismen zur Erlangung und Bewahrung von Macht, die sie im sowjetischen Stalinismus gelernt und auch angewendet hatten. Mit diesem „bewährten“ Instrumentarium kamen sie an die Spitze der SED und der späteren DDR – natürlich unter ständiger Kontrolle des „Großen Bruders“ – und verblieben dort für viele Jahrzehnte bis zum Zusammenbruch 1989/1990. Ganz oben standen in ungebrochener Kontinuität immer deutsche „Moskauer“.
Natürlich waren mir sehr viele Fakten aus Petersens Buch bekannt. Aber deren facettenreiche, logische und damit plausible Verknüpfung in dieser Dokumentation habe ich auch in dieser Dichte niemals zuvor zur Kenntnis nehmen können. Nach der atemberaubenden Lektüre der knapp 300 Seiten (am Stück: ein halber Tag und die darauf folgende Nacht) war mir klar, dass zwei Aspekte alle Diskussionen und Interpretationen zur DDR-Geschichte prägen müssen:
Erstens ist der Aufbau des „Sozialismus“ in der DDR, sprich einer Perversion dieses Gesellschaftsentwurfs, von wirklich nur einer Handvoll Menschen geführt worden, die die Werkzeuge des Stalinismus als Erfolgsformel verinnerlicht hatten.
Daraus folgte zweitens, dass die DDR bis zum Ende ihrer Tage und gegen alle marxistischen Postulate (Karl Marx, Friedrich Engels, August Bebel, Rosa Luxemburg, um nur die wichtigsten Protagonisten zu nennen) bei Strafe von Machtverlust und Untergang von ihren Führern weitestgehend demokratiefrei zu halten war. Jede Erosion dieses „Prinzips“ hätte die charakterlich verkommenen und intellektuell dürftig ausgestatteten Mitglieder des engsten Führungskreises in kürzester Zeit dahin befördert, wo sie hingehörten: Ins Nichts!
„Statt um Intelligenz und Wissen ging es um Gläubigkeit. Die Intellektuellen flogen in den Flügelkämpfen aus der Partei. Theoretiker wollte man nicht. Diskussionen waren unerwünscht“. Dies beschreibt Petersen für die Zeit der Stalinisierung der KPD in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Und schließt mit dem Satz: „Noch Ulbricht hatte Angst vor Intellektuellen“. Ich ergänze: das galt ebenso für Honecker, Mielke und Mittag. Dieses Führungstrio hatte bis zur Wende 1989 die SED und damit die DDR fest unter ihrer Knute. Diese „Moskauer“ Stalinisten stellten schon Anfang der 50er Jahre die gebildeten, moralischen und kultivierten Kommunisten kalt, die sich einen Sozialismus ohne Demokratie nicht vorstellen konnten. Aus der engeren Führung der SED der wohl wichtigste war Rudolf Herrnstadt, 1945 Gründungschefredakteur „der ersten deutschen Zeitung nach Hitler“ (Irina Liebmann: Wäre es schön? Es wäre schön!, Berlin Verlag, 2008, S. 227). Sein Weg begann schon 1928 im berühmten Mossehaus in Berlin-Mitte, wo er seine erste Begegnung mit dem legendären jüdischen Publizisten Theodor Wolff hatte, der wiederum von 1906 bis 1933 als Chefredakteur das „Berliner Tageblatt“ mit seiner linksliberalen Prägung zur einflussreichsten deutschen Zeitung machte. Dort war Herrnstadt bis 1933 Redaktionsmitglied und hoch angesehener Auslandskorrespondent.
Die hier schon erwähnte „Berliner Zeitung“, mit der die Nach-Nazi-Geschichte der deutschen Publizistik begann, steht also in der Person von Rudolf Herrnstadt intellektuell und im politischen Verständnis in der Traditionslinie des „Berliner Tageblatt“, und sie begann 1945 im Ostteil Berlins nicht stalinistisch, sondern getreu dem Credo ihres ersten Chefredakteurs demokratisch-sozialistisch. „Dank“ dem „Moskauer“ Walter Ulbricht nur eine kurze Episode. Auch Herrnstadt war als Kommunist in sowjetischer Emigration, aber eben nicht im engen Zirkel um Ulbricht und Pieck. Deshalb gehörte er auch als Kandidat des allmächtigen Politbüros (1950 – 1953) nicht zur engen Führungsclique. Ein Phänomen, das bis zum Ende der SED währte. Der größere Teil der Mitglieder war drin, besaß auch Macht, aber im oben beschriebenen Sinne gehörten sie letztendlich nicht dazu.
Die DDR-Stalinisten wendeten das Prinzip „wer nicht für uns ist, ist gegen uns“, auch bei den Künstlern und Wissenschaftler an, die vor allem in den End-40er- und 50er Jahren als überzeugte Antifaschisten aus dem Exil in den Teil Deutschlands zurückkehrten, wo radikal (und nicht halbherzig wie in Westdeutschland) mit der NS-Zeit gebrochen wurde. Das sollten Sie unbedingt bei Werner Mittenzwei nachlesen (Die Intellektuellen: Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945 -. 2000. Leipzig: Faber und Faber, 2001).
Ein Fazit des Rezensenten:
Der wesentliche Makel der DDR, auch das macht Petersen Buch deutlich, waren nicht in erster Linie erhebliche Defizite an Rechtsstaatlichkeit. Es war vielmehr die weitestgehende Abwesenheit von Demokratie. Verantwortet und bis zum Perfektionismus federführend exekutiert von denen, die es in keiner Rede versäumten, die Macht des Volkes als Realität zu preisen.
Diese Einordnung muss der zentrale Ansatz zur dringend gebotenen weiteren Aufarbeitung der DDR- und SED-Geschichte sein. Daraus abzuleiten ist auch das Erfordernis, sich differenzierter mit der pauschalen und semantisch diffusen Aussage auseinanderzusetzen, wonach es sich bei der DDR um einem Unrechtsstaat gehandelt habe.
Unrechtsstaat war sie in allererster Linie in ihrer Unterdrückung der Andersdenkenden. Dort wurde sie im echten stalinistischen Sinne rigide. Diese kompromisslose Bekämpfung aller, die nicht der großen Linie folgten, betraf aber nicht nur jene, die offen für die Beseitigung des „Sozialismus votierten. Das waren in der DDR ohnehin die wenigsten, denn die meisten hatten im Sinne der klugen Beschreibung von Günter Gaus in der DDR ihre „Nische“ gefunden. (Wo Deutschland liegt, Hoffmann und Campe, 1983).
Im Visier waren aber eben auch eine immer größere Zahl von Bürgern, die ihr Land besser, vor allem demokratischer, machen wollten.
Darunter z. B. die Eltern im DDR-Chemiedreieck (Halle, Leuna, Buna, Bitterfeld), deren Kinder wegen der katastrophalen Umweltverschmutzung quasi schon mit chronischen Luft- und Atemwegserkrankungen geboren wurden. Die wollten zu diesen Missständen gehört werden, sie wollten Transparenz, sie wollten Veränderung. Das reichte in vielen Fällen für das MfS schon aus, um im Auftrag der Partei (deren stalinistische Spitze trug die politische Verantwortung) einen „operativen Vorgang“ anzulegen und IM auf diese Menschen anzusetzen.
Dort, wo eine Bedrohung des Machtgefüges nicht befürchtet, gab es auch in der DDR funktionierende und auch transparente Strukturen von Exekutive und Judikative. Ein Beispiel ist das selbst von vielen westdeutschen Juristen hochgelobte Zivilgesetzbuch, das jeder Bürger verstand und dass im Kontext mit gut funktionierenden Organen der Rechtspflege unterhalb der Gerichte und angesiedelt in den Kommunen – bekannt als Schiedskommissionen – dafür sorgte, dass z. B. unselige Nachbarschaftsstreitigkeiten im Regelfall in wenigen Wochen geklärt wurden (heute dauert der Weg über mehrere Instanzen oft Jahre).
Ähnliches gilt für das Arbeitsrecht. In seiner Existenz als „Werktätiger“ – und das betraf die übergroße Mehrzahl der DDR-Bürger – garantierte es im betrieblichen Umfeld umfassende Sicherheiten. Nicht nur beim Kündigungsschutz, sondern auch mit dem verbrieften Recht auf Weiterbildung und umfassenden Möglichkeiten zur Freistellung nicht nur bei der Betreuung der Kinder. Auch hier wurde vieles schon durchgesetzt, bevor sich Gerichte damit befassen mussten. Analog zu den genannten Schieds- gab es in den Betrieben dazu die Konfliktkommissionen. Wie das politisch wirkte, und dass die Arbeiter in der DDR mit großem Selbstbewusstsein in ihren Betrieben und der Gesellschaft agierten, beschreibt der namhafte Soziologe Wolfgang Engler (Jahrgang 1952, Ostdeutscher, und von 2005 bis 2017 der einzige Rektor an den vielen Dutzend Berliner Universitäten und Hochschulen mit diesem „geografischen“ Hintergrund) in seinen beiden Büchern „Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land“ (Aufbau-Verlag, Berlin 1999), und „Die Ostdeutschen als Avantgarde“ (ebenda 2002). Dass diese Freizügigkeiten dann beendet waren, wenn ein Ausreiseantrag gestellt oder auch nur die Rechtmäßigkeit einer Wahl hinterfragt wurde, gehört auch zu dieser Wahrheit. Die stalinistisch gezogene Grenze war die Bedrohung der Macht, und hier ging es im Kern um die bei den Mächtigen verhasste Forderung nach Demokratie.
Lassen Sie mich diesen kleinen Exkurs zum Thema „Unrechtsstaat“ mit dem Stichwort Familienrecht beenden. Frauen im Westen, die diese Paragraphen kannten, als es noch beide Deutschlands gab, beneideten deswegen ihre DDR-Geschlechtsgenossinnen.
Aus meiner Einschätzung, dass die Unterdrückung der Demokratie das eigentliche Wesen des Stalinismus, auch jenes in der DDR, war, folgt für mich zwingend das Ja zu den bürgerlich-demokratischen Strukturen und Prinzipien unseres Landes. Einschließlich der Pflicht zu deren kompromisslosen Wahrung und Verteidigung. Nur auf dieser Grundlage ist es zulässig, ja sogar unsere Pflicht, den leider auch bestehenden demokratischen Defiziten im politischen Alltag zu Leibe zu rücken. Und zwar nur mit den Instrumenten der Demokratie.
Aus meiner Perspektive darf ich zum Schluss zwei dieser Defizite nennen. Das ist erstens die immer mehr zunehmende Aushöhlung der im Grundgesetz (Artikel 28, Absatz 2) verbrieften kommunalen Selbstverwaltung, und die damit einhergehende Behinderung umfassender basisdemokratischer Gestaltungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten.
Zweitens nenne ich die ebenfalls wachsende Dominanz von Exekutive und Judikative gegenüber der Legislative, u.a. als Nährboden für die intransparente Durchsetzung von Partikularinteressen, Stichwort Lobbyismus. Beides halte ich für besorgniserregend!
Wenn uns Bücher zu solch wichtigen, ja fundamentalen Erkenntnissen verhelfen, und der Weg dahin spannend zu lesen ist, dann handelt es sich um höchst seltene Glücksfälle. Wenn sie teilhaftig werden wollen, müssen Sie schnellstens die „Moskauer“ zur Hand nehmen. Sie werden es bis zum Schluss nicht mehr loslassen. Und bitte das Buch nicht bei Amazon kaufen, sondern im kleinen Buchladen um die Ecke.
Rezensent: Michael Schäfer
Petersen, Andreas: Die Moskauer. Wie das Stalintrauma die DDR prägte
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
2. Auflage 2019
ISBN: 978-3-10-397435-5
www.fischerverlage.de