Corona und die Daseinsvorsorge

Corona überall

Deutschland befindet sich nun schon seit Wochen im festen Würgegriff des Corona-Virus. Als im Januar die ersten Fälle aus dem zentralchinesischen Wuhan bekanntwurden, schien die Bedrohung noch weit entfernt. Doch schon bald verwiesen anerkannte Virologen auf das pandemische Potential des Erregers und auf dessen relativ rasche Verbreitung. Kaufleute aus Wuhan brachten Corona schließlich nach Europa. Dort durfte sich das Virus unter anderem im Tiroler Skiort Ischgl relativ ungestört verbreiten und reiste nach dem Ende der Skiferien zusammen mit den Infizierten durch ganz Europa. Für das grassierende Wachstum der Infektionszahlen in Norditalien haben Epidemiologen die Champions-League-Partie zwischen Atalanta Bergamo und dem FC Valencia als einen wesentlichen Auslöser im Verdacht. Im nordrhein-westfälischen Kreis Heinsberg haben die vielfältigen Karnevalsveranstaltungen eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Dass die anfangs etwas abseits des Infektionsgeschehens gelegene deutsche Hauptstadt sich recht schnell zu einem Hotspot entwickelte, ist zu maßgeblichen Anteilen auf eine rauschende Nacht im Berliner Club Trompete zurückzuführen.

Diese Zusammenhänge sollten nun auch die letzten Skeptiker überzeugen, dass bei exponentiell steigenden Fallzahlen Apres-Ski-Partys, Fußballspiele, Volksfeste, Clubnächte und ähnliches vorerst unterbleiben sollten. Es ist nahezu zwangsläufig, dass für einen gewissen Zeitraum alles unternommen wird, die Pandemie zumindest zu verlangsamen. Die Entwicklungen in Ostasien machen Mut, dass mit einem beherzten Einwirken, gesellschaftlicher Solidarität und verantwortungsvollen Bürgern massive Fortschritte bewirkt werden können. Taiwan, Vietnam und die Mongolei liegen in unmittelbarer Nachbarschaft zur Volksrepublik China. Dennoch ist es bislang gelungen, einen massiven Ausbruch wie derzeit in Europa zu verhindern. Besonders lohnenswert erscheint ein Blick nach Südkorea und nach China selbst, weil dort selbst nach einer epidemischen Verbreitung nach einigen Monaten massiver Maßnahmen die Zahl der Neuinfektionen deutlich gedrückt werden konnte. Die Optimisten erhoffen sich auch für Deutschland und Europa einen solchen Verlauf, innerhalb dessen sich die Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen recht bald bestätigt. Fraglich bleibt jedoch, wie nachhaltig dieser Erfolg sein wird und wann uns möglicherweise die nächste Infektionswelle überrollt.

Und spätestens dann wird sich die Frage stellen, wie lange sich ein nahezu vollständiger Lockdown des öffentlichen Lebens durchhalten lässt. Denn es geht ja nicht nur um unsere Unterhaltung und um unseren Komfort. Es geht in Kunst, Kultur, Gastronomie, Hotellerie, Sport und in vielen weiteren Bereichen um abertausende Jobs und Existenzen. Je stärker und länger die Maßnahmen anhalten, desto mehr Menschen werden betroffen sein und umso heftiger darunter leiden. Und dann wird irgendwann auch die Frage aller Fragen gestellt werden, die aktuell noch wie der berühmte rosa Elefant im Raum wabert. Einige Verfassungsrechtler extrapolieren aus Paragraph 1 des Grundgesetzes, dass jedes einzelne Menschenleben sämtliche Maßnahmen zu seinem Schutz bzw. zu seiner Rettung rechtfertigt. Das klingt schön, wird den Realitäten aber auch ohne Corona schon nicht gerecht. Zu hoch ist beispielsweise auch hierzulande die Korrelation zwischen Einkommen und Lebenserwartung. Und natürlich wird der Gehalt einer derart absoluten Aussage sich erst an der Schwere und Länge einer Krise messen lassen.

Keine entwickelte Volkswirtschaft wird ein vollständiges Herunterfahren des sozialen Lebens über mehrere Monate oder gar über Jahre verkraften können. Selbst wenn dies rein epidemiologisch die richtige Antwort wäre. Es ist nicht auszuschließen, dass uns das Virus demnächst die brutale Abwägung zwischen einem volkswirtschaftlichen Gesamtinteresse und der Gesundheit einzelner Risikogruppen abverlangt. Mit den aktuellen Bemühungen versuchen wir, diese bitteren Entscheidungen zu umgehen. Doch wenn sich die Frage irgendwann doch stellen sollte, wird sie nicht allein mit dem moralischen Imperativ zu beantworten sein. Zu vielfältig sind nicht zuletzt die gesundheitlichen Nebenwirkungen eines wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stillstands. Wenn Existenzen bedroht sind und Menschen vereinsamen, werden psychische Erkrankungen, Suizide und häusliche Gewaltausbrüche zunehmen. Und wenn die deutsche Wirtschaft kollabiert, werden zusammen mit dem Volksvermögen auch die Lebenserwartung, die gesundheitliche Versorgung und die soziale Stabilität Schaden nehmen.

Volle Regale auch mitten in der Corona-Krise. Foto: Ralf Roletschek / Roletschek.at

Vom Wildtier zum Menschen

Aktuell wird von vielen Akteuren die Singularität der aktuellen Herausforderung betont. Doch wir haben in den vergangenen Jahren bereits eine ganze Reihe potentiell enorm gefährlicher Ausbrüche erlebt. Ebola kam aus der Mitte Afrikas, SARS und die Vogelgrippe H5N1 – ebenso wie Corona – aus chinesischen Wildtiermärkten. Es ist richtig und mehr als an der Zeit, dass die Volksrepublik China ihre Hygieneanforderungen und die Bestimmungen für Haltung, Verkauf und Verzehr von Wild- und Lebendgetier kritisch überprüft. Und auch die Ebola-Ausbrüche der vergangenen Jahre hingen ganz erheblich mit der mangelnden Distanz zwischen dem Menschen und einzelnen Wildtieren wie Affen oder Fledermäusen zusammen. Es war vermutlich schlicht Glück, dass die benannten Krankheiten uns Europäer in den vergangenen Jahren kaum oder gar nicht beeinträchtigt haben. Jetzt ist es anders. Und eine weitere Pandemie ist in der näheren Zukunft keinesfalls ausgeschlossen. Nun rächt sich, dass den Wildtieren zunehmend der Raum genommen wurde und dass sie damit zwangsläufig näher an den Menschen rücken. Und natürlich bildet die fortschreitende Globalisierung immer bessere Voraussetzungen für eine pandemische Verbreitung. Tatsächlich ist das COVID-19-Virus vergleichsweise mild. Angaben zur Sterblichkeit variieren aktuell zwischen den beiden Extremen Deutschland mit 0,9 Prozent letaler Verläufe und Italien mit annähernd elf Prozent. Das weltweite Mittel liegt mit 4,5 Prozent ziemlich genau dazwischen. Allerdings wird von den meisten Virologen angenommen, dass die tatsächliche Sterblichkeit eher dem deutschen Wert entspricht oder sogar darunter liegt. Schlicht deshalb, weil die Dunkelziffer der unentdeckten Infektionen vermutlich enorm hoch ist. Schwierige Verläufe sind bei Kindern und Erwachsenen unter 40 vergleichsweise selten. Betroffen sind vor allem hochbetagte Menschen und solche mit Vorerkrankungen, wiewohl natürlich auch bei allen anderen ein gewisses Grundrisiko besteht.

Dagegen hat das ebenfalls hochinfektiöse Ebola-Virus seit seinem letzten Ausbruch im Jahr 2018 in etwa zwei Drittel der Erkrankten dahingerafft. Man mag sich gar nicht vorstellen wie sich eine solche Pandemie hier in Europa auswirken würde.

Vielleicht ist dieser wenig rosige, dafür aber realistische Ausblick ein kleiner positiver Nebeneffekt der aktuell misslichen Lage. Positiv deshalb, weil uns Corona die Möglichkeit gibt, das Bewusstsein zu schärfen und die Notfallpläne für kommende Pandemien zu konturieren.

Helden des Alltags

Im Hier und Jetzt hoffen wir alle gemeinsam auf einen möglichst glimpflichen Verlauf, auf ein baldiges Ende der Einschränkungen und auf eine schnelle volkswirtschaftliche Rekonvaleszenz. Wir werden nun zurückgestuft auf unsere essentiellen Bedürfnisse. Das ist im Kern die Daseinsvorsorge und hier zeigt sich die Bedeutung handlungsfähiger und kompetenter Kommunalverwaltungen. Die Kommunen haben schon bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise oder bei der dringend notwendigen Wende in Richtung Nachhaltigkeit Hervorragendes geleistet. Und auch jetzt ist die Versorgung gesichert und funktioniert weitgehend reibungslos. Das ist die zentrale Voraussetzung für weiterhin stabile Verhältnisse. Wir haben gesehen, welch irrationale Reaktionen auch nur die Ankündigung einzelner Einschränkungen auslösen konnten. Hier war vor allem der Einzelhandel betroffen und die Klopapier-Hamsterkäufe sind mittlerweile Legion. Man möge sich gar nicht ausdenken, welche Folgen Engpässe bei Wasser, Abwasser, Strom, Wärme oder bei der Entsorgung ausgelöst hätten. Dann wären wir vermutlich schon im Katastrophenmodus angekommen und müssten uns zunehmend um die Sicherheit im Lande sorgen.

Bei diesen systemrelevanten Betrieben ist es weitgehend egal, ob sie nun in einer privaten, kommunalen oder gemischtwirtschaftlichen Konstellation agieren. Sie alle leisten ihren Anteil und werden ihrer Verantwortung für Mitarbeiter und Kunden gerecht. Den Angestellten im Einzelhandel kann man gar nicht genug danken, dass sie sich Tag für Tag in eine erhebliche Infektionsgefahr begeben, um uns einen zwar eingeschränkten, aber weitgehend sorglosen Alltag zu ermöglichen. Auch Wasserbetriebe, Energielieferanten oder Nahverkehrsunternehmen sind absolut unverzichtbar. Von der medizinischen Infrastruktur ganz zu schweigen. Gleiches gilt für die Entsorger und es wäre wünschenswert, wenn sie nun endlich bundesweit in den Kanon der systemrelevanten Sparten aufgenommen würden. Schließlich sind diese Leistungen gerade in pandemischen Zeiten von zentraler Bedeutung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Hygiene. Nicht zuletzt müssen auch die Logistiker und Spediteure Erwähnung finden. Denn sie halten unseren Alltag buchstäblich am Rollen.

Bei all den Solidaritätsadressen, Durchhalteparolen und Danksagungen sollten wir jedoch nicht vergessen, dass Daseinsvorsorge, Wirtschaft und Verwaltung nicht allein mit guten Worten in Gang bleiben. Aktuell wird viel über kurzfristige Hilfen für den Mittelstand gesprochen, doch auch die Großunternehmen werden einen vollständigen Produktionsstopp nicht über Wochen und Monate ausdehnen können. Auch hier stehen abertausende von Arbeitsplätzen zur Disposition. Und nun wird von allen Seiten auf den Staat verwiesen. Dass der nun kurzfristig einspringen und Engpässe überbrücken möge. Schon jetzt wachsen die Beschwerden, dass Steuerstundungen und Kredite nicht ausreichten, dass die Finanzhilfen quasi als Schenkungen deklariert werden müssten. Das mag im Einzelfall richtig sein, doch wir sollten nicht vergessen, dass auch der Staat nicht über unbegrenzte Mittel verfügt, sondern nur das umverteilt, was ihm aus Steuergeldern zufließt. Die Krise wird sich auch hier auswirken. Die Rezession steht vor der Tür. Da sind sich die meisten Experten mittlerweile einig. Nicht nur die Unternehmen, sondern auch viele Städte und Gemeinden sind akut bedroht. Während Bund und Länder sich auf Ausnahmereglungen zur Schuldenbremse berufen können, sind die Kommunen viel stärker begrenzt. Schon jetzt erwartet der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes eine umfassende und unbegrenzte Unterstützung seitens des Bundes und der Länder. Die Rede ist auch hier von einem Rettungsschirm. In den vergangenen Jahren ist es vielerorts gelungen, die kommunalen Verbindlichkeiten signifikant abzubauen. Doch nun brechen überall die Einnahmen weg. Kultureinrichtungen, Bäder oder der ÖPNV erfordern schon in normalen Zeiten teilweise erhebliche Zuschüsse. Nun liegen die Einnahmeverluste bei bis zu 100 Prozent. Angesichts der mittlerweile deutlich verbesserten Finanzlage lässt sich dies möglicherweise für einige Wochen aushalten. Weit schlimmer wird sich auswirken, dass auf der anderen Seite der Bilanz eine deutliche Verminderung der Steuereinnahmen zu erwarten ist. Dies betrifft die Einkommensteuer, aber noch mehr die Gewerbesteuer, welche letztlich etwa ein Fünftel der kommunalen Einnahmen ausmacht. Davon werden vor allem wirtschaftsstarke Kommunen betroffen sein, womit allerdings wiederum der Verfügungsrahmen des kommunalen Finanzausgleichs leiden wird. Vor dem Hintergrund der Krise scheint es umso dringlicher, den Vorschlag von Bundesfinanzminister Olaf Scholz aufzugreifen und besonders verschuldete Kommunen einmalig zu entlasten. Grundsätzlich sind Bund und Länder aufgerufen, die finanziellen Handlungsspielräume der Kommunen mindestens zu erhalten. Denn es hat sich auch in vergangenen Krisen stets erwiesen, dass der Schlüssel zu deren Bewältigung direkt vor Ort in den Städten und Gemeinden liegt.

Fazit

Ob die richtigen Strategien verfolgt wurden, ob angemessen gehandelt wurde, werden wir vielleicht erst nach dem Ende der Krise beurteilen können. Die Debatte um den Sinn der getroffenen Maßnahmen und deren gesellschaftliche Nebenwirkungen wird vermutlich proportional zur Dauer und Massivität der Einschränkungen an Heftigkeit zulegen. Schon jetzt zeigt sich ein differenziertes Meinungsbild, welches sich in seiner ganzen Vielfalt durch Zitate angesehener Experten stützen lässt. Die einen sagen, dass zu spät und zu wenig drastisch gehandelt wurde, die anderen beklagen angesichts der relativen Milde des Virus eine allgemeine gesellschaftliche Hysterie und einen Überbietungswettkampf der Staaten untereinander und zwischen den staatlichen Institutionen. Doch für alle gilt, dass man mitten im Sturm nicht richtig prognostizieren kann, welche Effekte welche Maßnahmen in einigen Monaten gebracht haben werden. Zu unbekannt ist das Virus und zu schwer absehbar dessen gesellschaftliche Folgen. Die aktuell vielzitierten Virologen gehen sehr offen mit diesen Unsicherheiten bei der Folgenabschätzung um. Sie betonen, dass die Entscheidungen immer auch eine politische Komponente haben; daher von der Exekutive getroffen und vertreten werden müssten. Vielleicht ist das Fehlen eines kohärenten Ansatzes am Ende die beste Strategie, um mit möglichst wenig Einbußen aus der Misere herauszufinden. Vielleicht ist es das Beste, auf Sicht zu fahren und sich dynamisch an die Entwicklungen anzupassen. Vielleicht auch nicht.

Eines sollte an dieser Stelle aber gesagt werden. Die politische Klasse in diesem Land erarbeitet sich durch eine seriöse und kompetente Informationspolitik sehr viel neues Vertrauen. Und die Virologen stellen täglich unter Beweis, dass die Bundesrepublik in dieser Disziplin noch immer die absolute Weltspitze stellt. Sie beeindrucken neben ihrer akademischen Exzellenz auch mit einer durchaus überraschenden Vermittlungskompetenz. Und die ist auch wichtig. Denn das Vertrauen in Politik und Wissenschaft ist gerade in Krisenzeiten essentiell, damit die nun eingeleiteten gravierenden Maßnahmen auch diszipliniert befolgt werden. Nun bleibt zu hoffen, dass bis Ostern eine signifikante Reduktion der täglichen Neuinfektionen erreicht wird. Doch selbst dann muss noch immer die Frage beantwortet werden, wie uns eine möglichst glimpfliche Immunisierung der Bevölkerung zu möglichst geringen gesellschaftlichen Kosten gelingt.

Das mag durchaus kontrovers diskutiert werden, doch eines bleibt in diesen Zeiten weitgehend unwidersprochen. Nämlich, dass wir in einem Land leben, das für derartige Krisen ausgesprochen gut gerüstet scheint und das über hochambitionierte, verantwortungsvolle, innovative und kompetente Fachkräfte verfügt. In Politik, Wissenschaft und in der Versorgungswirtschaft. Möglicherweise kann dieser stolze Blick auf offenbar überdurchschnittlich krisenfeste Strukturen auch etwas Mut und Optimismus für die vielen anderen Herausforderungen unserer Zeit hervorbringen.

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