Eindruck und Wirklichkeit
Wir leben in unruhigen Zeiten. Die vermeintliche Stabilität der 1990er und 2000er Jahre scheint zu Ende. Das erste Fanal war die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise, dann musste sich Europa als Ganzes mit einem enorm verstärkten Einwanderungsdruck arrangieren und schließlich kam das Corona-Virus. Der nach dem Ende des Kalten Krieges annähernd weltweit bestehende Konsens, dass demokratische und freiheitliche Systeme autokratischen Modellen gegenüber im Vorteil seien, wird heute nicht mehr widerspruchsfrei hingenommen. Die Volksrepublik China, aber auch Staaten wie Singapur oder Vietnam beweisen, dass eine lebendige Demokratie keine notwendige Voraussetzung für wirtschaftliche Prosperität ist. Und auch in der sogenannten westlichen Welt gewinnen populistische, nationalistische und totalitaristische Strömungen stetig an Schlagkraft. In diese Reihung passen die spezifisch türkische Kombination aus Nationalismus und Islamismus, der zunehmende Erfolg von klerikalen und illiberalen Konzepten in unserem Nachbarland Polen, der Isolationismus der Briten, der Demokratieabbau in Ungarn oder auch die wachsende Spaltung der politischen Milieus in den USA. In fast allen europäischen Staaten haben sich mittlerweile starke politische Bewegungen etabliert, die dem europäischen Gesellschaftskonzept in seiner aktuellen Ausprägung kritisch gegenüberstehen. Seit der Migrationskrise 2015 haben vor allem neurechte Bewegungen einen erheblichen Zulauf erhalten. Die Frage nach dem Ob und Wie von Integration ist aktuell sicherlich der größte Spaltpilz in Europa. Doch auch an weiteren Themenkomplexen wie dem Klimawandel oder der aktuellen Pandemiebekämpfung scheiden sich die Geister. Klar scheint, dass sich die Radikalisierungen nach ethnischen und religiösen Gruppen zu einem Gutteil gegenseitig bedingen. So ist die islamistische Bedrohung in Europa ein wesentlicher Auslöser der aktuellen Rechtsdrift, wurde aber selbst zumindest teilweise durch Ausgrenzungserfahrungen befeuert. Islamismus und Rechtsradikalismus stellen in diesem Antagonismus ein stetig wachsendes Bedrohungspotential dar. Und die Einschläge kommen näher bzw. werden häufiger. Zwischen 2001 und 2007 mordete sich der NSU durch die gesamte Bundesrepublik. Einer Serie kleinerer islamistischer Anschläge in Ansbach, Würzburg, Hamburg und anderswo gipfelte am 19. Dezember 2016 in einem der folgenschwersten Terrorangriffe der bundesrepublikanischen Geschichte. Der Tunesier Anis Amri steuerte einen gekaperten Lkw in den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz. Zwölf Menschen starben, mehr als 50 wurden teilweise schwer verletzt. Spätestens seit dem vergangenen Jahr rückte dann der rechte Terror wieder in den Fokus des öffentlichen Bewusstseins. Zuerst durch den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, dann durch den Anschlag in Halle und schließlich durch den offenkundig xenophob motivierten Amoklauf des Hanauer Verschwörungstheoretikers Tobias Rätjen. In diesem Zusammenhang sei kurz erwähnt, dass deutlich mehr als die Hälfte der Terroropfer in der bundesdeutschen Geschichte auf das Konto rechtsgerichteter Einzeltäter oder Tätergruppen gehen. Jedenfalls zeigt sich seit 2010 ein signifikanter Anstieg der politisch motivierten Kriminalität. Seit dem Ausnahmejahr 2016 sind die Fallzahlen zwar etwas gesunken, bewegen sich aber nach wie auf hohem Niveau.
Einerseits dürfen diese Entwicklungen unsere Gesellschaft nicht kalt lassen, andererseits täuscht die Intensität der medialen Berichterstattung darüber hinweg, dass auch die mit Amokläufen und/oder politisch motivierten Übergriffen einhergehende Gefahr begrenzt ist. Zumindest dann, wenn man den Verkehrssektor als vergleichende Kennziffer akzeptiert. Wiewohl auch hier die Todeszahlen seit den 1980er Jahren rapide gesunken sind, starben allein im vergangenen Jahr 2019 mehr als 3.000 Menschen durch Verkehrsunfälle. In nur einem Jahr wurden damit 30mal mehr Menschen getötet als durch terroristische Übergriffe in den vergangenen 30 Jahren seit der Deutschen Einheit ums Leben kamen. Solche Zahlenspiele und Gegenüberstellungen sind natürlich gefährlich, denn sie geraten schnell in den Ruch des Zynismus. Dessen sollte man sich bewusst sein, doch im Sinne von Gefahren- und Folgenabschätzungen sind natürlich auch Abwägungen vonnöten. Die Frage nach Aufwand, Nutzen und Kollateralschäden stellt sich nicht nur in Bezug auf pandemische Ausbrüche, sondern auch bei der Sicherheit. Zumal dann, wenn auch die allgemeine Kriminalität im Vergleich der entwickelten Industriestaaten hierzulande noch immer recht gering ausgeprägt ist.
Im Kern geht es darum, welche Maßnahmen sich vor dem Hintergrund einer konkreten Bedrohung rechtfertigen lassen bzw. wo Freiheitsrechte zu stark eingeschränkt werden bzw. Kosten aus dem Ruder laufen.
Das norwegische Beispiel
Wie bei Corona, wird auch in Bezug auf die öffentliche Sicherheit von einigen Kommentatoren ein Absolutheitsanspruch postuliert. Dass also alles getan werden müsse, um ein weiteres Unglück zu verhindern. Der regelmäßige Widerspruch dagegen lautet, dass es eine absolute Sicherheit nicht gebe, dass jede Handlung auch ein gewisses Risiko berge, dass die Überbetonung der Sicherheit wiederum im Totalitarismus gipfeln könne und dass auch in Bezug auf unsere Freiheitsrechte nach Maß und Mitte abgewogen werden müsse.
Im Sommer 2011 ereignete sich auf der Insel Utoya im Tyrisee 40 km nordwestlich von Oslo einer der schwersten europäischen Terroranschläge dieses Jahrhunderts. Tatsächlich lag der Blutzoll nur etwas unter dem der Zuganschläge in Madrid 2004 sowie der Pariser Terrorattacken 2015. Sie hatten zudem eine erhöhte politische Bewandtnis, weil sie explizit die sozialdemokratische „Arbeiterpartei“ des damals regierenden norwegischen Ministerpräsidenten, Jens Stoltenberg, galten. Diese hatte auf der Insel Utoya ihr alljährliches Sommerlager für den Parteinachwuchs abgehalten und geriet dabei ins Visier des rechtsgerichteten Attentäters Anders Bering Breivik. Laut Breiviks Manifest sollten die Sozialdemokraten explizit für ihre liberale Politik der vergangenen Jahrzehnte büßen. Im Lichte all dieser gezielten Aggression, dieses Hasses und der vielen Opfer war die Reaktion der Politik nachgerade bemerkenswert. Jens Stoltenberg verfiel eben nicht in die bei solchen Anlässen übliche Schützengraben-Rhetorik, sondern betonte vielmehr, dass Norwegen seine Offenheit und seine Freiheitsrechte nicht einschränken oder gar aufgeben wolle. Ausdrücklich wurde auf den Umstand verwiesen, dass die Regierung keinerlei Verschärfungen der norwegischen Sicherheitsarchitektur plane. Eine solche Haltung mag man als gefährlich, nachlässig oder als naiv brandmarken, tatsächlich jedoch entspringt sie dem zutiefst humanistischen Gesellschaftsideal der Selbstverantwortung, nach der der Staat sich nicht anmaßen solle, seine Bürger vor jeglichen Risiken bewahren zu können. Möglicherweise ist es nach einer offenkundigen Einzeltat leichter, eine derartige Position einzunehmen, als bei einer fortlaufenden und kontinuierlichen Bedrohung. Aber der zugrundeliegende Gedanke ist der gleiche. Wenn wir uns bei einer latenten Bedrohung allzu sehr selbst beschränken, dann werden zuerst jene kulturellen Errungenschaften geopfert, die uns von den fundamentalistischen Ideologien mit ihren allzu umfassenden Geltungsansprüchen abgrenzen. Dadurch erst werden die Demokratiefeinde in die Lage versetzt, unsere Gesellschaft zu destabilisieren. Wenn wir uns aber auf dieses Spiel nicht einlassen, dann werden die Täter als das wahrgenommen, was sie sind. Als versprengte Irre, die ihre eigenen intellektuellen und moralischen Defizite mit einer Ideologie der Selbstüberhöhung auszugleichen suchen. Denn eines soll an dieser Stelle auch gesagt werden. Egal wie man der terroristischen Bedrohung gegenübertritt. Weder islamistische, noch rechtsextreme Kräfte besitzen hierzulande auch nur annähernd das Potential für einen revolutionären Umsturz. Und genau das ist auch der Grund, weshalb sie sich auf das ausgesprochen klägliche Instrumentarium verlegen, mehr oder weniger wahllos Unschuldige zu töten. Die hierzulande noch immer stabile Demokratie sollte sich auch durch die schlimmsten Provokationen nicht verleiten lassen, ihre tragenden Werte zu verraten. Die Anschläge der vergangenen Jahre sollten insofern zwar zu erhöhter Wachsamkeit Anlass geben, allerdings keinen Hebel bilden zur immer stärkeren Einschränkung von Freiheitsrechten.
Wir sollten uns ehrlich machen. Gegen den Fanatismus und den Hass Einzelner ist kaum ein Kraut gewachsen. Nehmen wir den Berliner Breitscheidplatz. Seit dem Lastwagenattentat von Anis Amri ist er von Pollern umsäumt, die es nahezu unmöglich machen, erneut einen Lkw auf das im Jahresverlauf für etliche Feste genutzte Gelände zu steuern. Spürbar hat sich auch die Zahl der patrouillierenden Polizisten erhöht, doch flächendeckende Personenkontrollen finden nicht statt. Und so scheint es noch immer möglich, aus einem Auto herauszuspringen, bewaffnet auf den Platz zu stürmen und etliche Menschen zu töten. Ausreichend Wahnsinn und Findigkeit vorausgesetzt, werden sich auch noch so ausgeklügelte Präventionsmaßnahmen umgehen lassen. Und wenn nicht auf dem Breitscheidplatz, dann möglicherweise auf einem anderen der dutzenden Berliner Weihnachtsmärkte oder anderswo in der Republik. Was ist dann aber die Erkenntnis aus diesen Überlegungen? Dass wir den öffentlichen Raum vollständig abriegeln sollen oder im Vorfeld derart flächendeckend überwachen, dass Vorbereitungen für ein solch schändliches Treiben nicht unbemerkt bleiben können. Natürlich nicht. Und zwar nicht nur aus Kostengründen oder zum Schutz von Freiheitsrechten, sondern weil ein so ermächtigter Überwachungsstaat keiner ausreichenden öffentlichen Kontrolle unterliegen und nur noch sich selbst genügen würde.
Die Mär von der subjektiven Sicherheit
Eine vollständige Sicherheit kann es nicht geben. Vonnöten ist vielmehr ein stetiger Abwägungsprozess zwischen Freiheit, Risiko und nicht zuletzt einer angemessenen Kostenkontrolle. Denn irgendjemand muss die steigenden Aufwände auch begleichen. Kaum eine Partei, kaum ein Einzelbewerber würde sich trauen, mit der Forderung nach weniger Polizisten in den Wahlkampf zu ziehen. Dabei wäre angesichts der digitalen Rationalisierungspotentiale und der sinkenden Kriminalitätsrate genau dies angezeigt. Stattdessen vernehmen wir die ständigen Rufe nach immer mehr Personal und besserer Ausrüstung. Krude wird es, wenn in diesem Zusammenhang auf ein gesunkenes Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung verwiesen wird. Wenn sich immer mehr Menschen teilweise vollkommen anlasslos bedroht fühlen, ließe sich möglicherweise ein Mehr an Pädagogen oder Psychologen begründen, aber keinesfalls ein Mehr an Polizisten.
Die deutschen Kommunen klagen seit Jahrzehnten und zwar mit gutem Recht über stetig wachsende Standards. Dies ist vor allem im ländlichen Raum von Belang, wo teilweise gravierende demografische Schrumpfungsprozesse ablaufen. Dort werden die essentiellen Leistungen des täglichen Lebens von immer weniger Menschen nachgefragt, was allerdings nichts daran ändert, dass die Kommunen nach wie vor ein angemessenes Angebot bereitstellen müssen. In diesem Zusammenhang müsste eher über eine Senkung von Standards debattiert werden, tatsächlich aber geht die Diskussion bei Sicherheit, Bildung, Bauen, Arbeitsschutz und in vielen anderen Bereichen stets in die andere Richtung. In den vergangenen 30 Jahren hat sich die Zahl der regulativen Vorgaben vervielfacht. Und das betrifft auch das Thema Sicherheit.
In einigen deutschen Städten sind die Kommunen Sicherheitspartnerschaften mit der Polizei eingegangen. Hier werden freiwillige Polizeihelfer einer kurzen Ausbildung unterzogen, um im Streifendienst mitzuwirken. Viele Straßen und Plätze wurden baulich zusätzlich gesichert. Etliche Kommunen weiten dazu die Videoüberwachung innerhalb ihrer Gemarkungen aus. All diese freiwilligen Engagements belasten jedoch die kommunalen Kassen, müssen entsprechend strategisch klug gewählt sein und dürfen keinesfalls dazu führen, dass die Polizei diese Entlastungen zum Anlass nimmt, die eigene Präsenz zu verringern. Wenn die Ordnungsämter oder auch freiwillige Polizeihelfer nun verstärkt im öffentlichen Raum für Sicherheit und Ordnung sorgen, müssen sie auch entsprechende Kompetenzen an die Hand bekommen. Und grundsätzlich gilt, dass die Kommunen nicht für die erhöhten Standards im Bereich Öffentliche Sicherheit aufkommen sollten. Wenn in Landes- und Bundestagswahlkämpfen ein sogenanntes subjektives Sicherheitsgefühl thematisiert wird, dann desavouiert sich die politische Klasse selbst. Dann gesteht sie ein, dass man ihr nicht mehr vertraut. In diesem Fall sollte sie dann auch das Rückgrat besitzen, die entsprechenden Mehrkosten in voller Höhe zu übernehmen.
Vielleicht sind die Kommunen der passende Ort, die Debatte wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Denn dort zeigt sich ganz konkret, dass jeder Euro nur einmal ausgegeben werden kann und dass bei ohnehin klammen kommunalen Kassen die verschiedenen Leistungen der Daseinsvorsorge einer scharfen Ausgabenkonkurrenz unterliegen. Grundsätzlich ist es natürlich zu begrüßen, wenn die Polizei beispielsweise mit den kommunalen Ordnungsämtern stärker interagiert. Allerdings sind die entsprechende Synergiepotentiale eng begrenzt. Und nicht zuletzt sind und bleiben Polizei und öffentliche Sicherheit hoheitliche Aufgaben des Landes und des Bundes. Die Kommunen sollten Acht geben, dass die Mehraufwände politischer Sicherheitsverheißungen nicht am Ende auf sie umgelegt werden.