Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich – Friedrich Christian Delius

„Es wird knallen, wenn wir nicht endlich aufwachen“, sagte der ehemalige Daimler-Boss Edzard Reuter und meinte die maßlosen, marktzerstörenden, asozialen Manager. Dieses Zitat wurde mir aus einem Artikel gestrichen. Dabei wollte ich nur sagen: Die Mehrheit dieser Manager wird nicht aufwachen, und knallen wird es wohl auch nicht. Es wird der Boden bereitet für chinesische Investoren, die langfristig denken und nicht so bescheuert sind wie die quartalsblinden Amerikaner und Europäer“. (S. 32)

Mit diesem Zitat wird recht genau die thematische Bandbreite des neuen Buches von Friedrich Christian Delius umrissen, der seit vielen Jahren in der ersten Reihe der bedeutenden deutschen Gegenwartsautoren steht. Dass auf dem Cover „Roman“ steht, haben ihm viele Kritiker um die Ohren gehauen. Darüber staune ich immer noch. Offenbar haben diese „Gurus“ nicht die geniale Einfachheit der Buchidee geschnallt: Der Erzähler, ein Wirtschaftsjournalist, der nicht die vielgeliebte und hofierte Sprechblase diverser Pressesprecher sein will, sondern lieber selber recherchiert, wird wegen dieser, offenbar veralteten Berufsauffassung vorzeitig in den Ruhestand befördert. In selbigem schreibt er weiter. Mit noch spitzerer Feder und ohne Zensur. Sein Medium ist das Tagebuch. Das adressiert er zuvorderst an seine achtzehnjährige Nichte Lena, die nach dem irdischen Ende ihres Onkels nachlesen soll, warum es mit Europa (und darüber hinaus) im 21. Jahrhundert so dramatisch den Bach runterging.

Ist der Genrebegriff „Roman“ Etikettenschwindel?

Der Vorwurf vieler Rezensenten an Delius:  Er habe sich mit diesem Tagebuchtrick eine Tribüne gebaut, von der er als alternder Literat keine fein gedrechselten Geschichten verkündet, sondern Zeitkritisches. Die Verwendung des Genrebegriffs „Roman“ sei also mithin Etikettenschwindel. Aber liebe Leute, ihr verdammt doch genau das, was uns fehlt. Nämlich die Wortmeldungen gescheiter Intellektueller, die im weisen Stadium ihrer Existenz mit dem erst dann verfügbaren Mix aus Wissen, Erfahrung und Differenzierungsvermögen  stimmige Urteile über das Hier und Heute abgeben können. Habt Ihr vergessen, wie weiland in den 50er bis 70er Jahren Titanen wie die beiden Nobelpreisträger Heinrich Böll und Günther Grass oder auch Rolf Hochhuth den gesellschaftlichen Diskurs stimuliert und bereichert haben? Mit ihren ebenso gnadenlosen wie subtilen Urteilen, ihrer Unbestechlichkeit.

Das brachte jene, deren politisches Tun im Fokus stand, regelmäßig in Rage. Wir erinnern uns an das, was Bundeskanzler Ludwig Erhard am 9. Juli 1965 in Düsseldorf vor dem Wirtschaftstag von CDU/CSU zum „Besten“ gab: „Neuerdings ist es ja Mode, dass die Dichter unter die Sozialpolitiker und die Sozialkritiker gegangen sind. Wenn sie das tun, ist das natürlich ihr gutes demokratisches Recht, dann müssen sie sich aber auch gefallen lassen, so angesprochen zu werden, wie sie es verdienen, nämlich als Banausen und Nichtskönner, die über Dinge urteilen, von denen sie einfach nichts verstehen. Ich habe keine Lust, mich mit Herrn Hochhuth zu unterhalten über Wirtschafts- und Sozialpolitik, um das einmal ganz deutlich zu sagen und das Kind beim Namen zu nennen. Ich meine, das ist alles dummes Zeug. Die sprechen von Dingen, von denen sie von Tuten und Blasen keine Ahnung haben. Sie begeben sich auf die Ebene, auf die parterreste Ebene eines kleinen Parteifunktionärs und wollen doch mit dem hohen Grad eines Dichters ernst genommen werden. Nein, so haben wir nicht gewettet. Da hört der Dichter auf, da fängt der ganz kleine Pinscher an.“

„Pinscher“, „Banausen“, „Nichtskönner“, „Scharlatane“! Gemeint waren die Dichter des Volkes der Dichter und Denker“, so die Berliner Zeitung vom 29. Mai 1992, und weiter: „Für 1965 notieren wir, 27 Jahre vor 1992, dass sich vorwiegend links orientierte deutsche Dichter mit eher rechts verorteten Politikern noch regelrechte Schlachten schlugen. Begleitet von gewaltiger Medienresonanz. Warum war das damals möglich? Lag es an den Zeiten, oder lag es eher am intellektuellen und moralischen Format der Dichter – Günter Grass, Martin Walser, Uwe Johnson, Heinrich Böll und eben auch Rolf Hochhuth – um nur fünf Namen zu nennen?“

Anlass für diese Bestandsaufnahme der „Berliner Zeitung“ war Hochhuths Stück „Wessis in Weimar“, das nach der Vorveröffentlichung einiger Szenen und der folgenden politischen Verdammnis des Dichters aus (fast) allen Lagern und (fast) allen Rohren am 10. Februar 1993 am Berliner Ensemble uraufgeführt wurde.

Wider dem glatt gebügelten, populistischen Ton der politisch korrekten Art

Die Stimmen jener Künstler, die mit Verantwortungsbewusstsein und Courage die Kinder beim Namen nannten und nennen, sind leiser und seltener geworden oder ganz verstummt. Wenn da einer wie Delius die Tradition wieder aufnimmt, lockt er nicht nur wieder den Stachel, er bewegt sich auch zum aktuellen Zeitgeist diametral entgegengesetzt. Zum glatt gebügelten, populistischen Ton der politisch korrekten Art, wie er offenbar nun auch per Literaturkritik den deutschen Dichtern verordnet werden muss, passt es ganz und gar nicht, dass Delius für unsere aktuelle Kanzlerin eine neue Abkürzung erfunden hat: „Freund Jürgen und ich (ich, das ist der geschasste Redakteur, quasi das Alter Ego des Dichters), nennen die Frau, vor der zwei Drittel unserer Kolleginnen und Kollegen in die Knie gehen, die MÜK, die maßlos überschätzte Kanzlerin“. Die Begründung: „Mein letztes Vergehen vor der Wahl (gemeint ist die Bundestagswahl 2017): habe die Weisheit und den Reformwillen Macrons höher eingestuft als die der MÜK. Da macht der Franzose in Athen, mit viel Pathos und Klartext, mit konstruktiver Kritik eine Reihe von Vorschlägen zur Verbesserung der EU in Richtung Demokratie, Italien und Spanien lechzen nach solchen Reformen – er streckt die Arme aus, aber aus den deutschen Wäldern kommen nur Schweigen und der weiße Nebel wunderbar. Man überlässt die Kritik an der EU den Rechten. Das wird sich rächen, schrieb ich wörtlich. Ohne an meine Chefetage zu denken“ (S. 17).

Zur Kritik an der Kanzlerin formuliert Delius im Buch weitere Argumente. Ob die stimmen, ob die daraus abgeleitete Wertung zutrifft, entscheiden ganz allein die Leser. Das wiederum macht der Autor ihnen leicht. Denn er hinterfragt ausdrücklich auch die eigenen Thesen und damit sich selbst. Der Ton ist nachdenklich, aber am Ende zählt der Ich-Erzähler auch Eins und Eins zusammen. Das Ergebnis ist seine Schlussfolgerung. Der Rezensent hatte an keiner Stelle das Gefühl, dass ihm diese Conclusio aufgezwungen werden soll. Mit dieser nachdenklichen Bestimmtheit formuliert Delius originelle Gedanken, erzeugt neue Sichten und wagt kühne Prognosen. Das passiert intellektuell wie sprachlich auf höchstem Niveau und ist nie dogmatisch. In diesem Geist und mit ähnlich mutigen Pointierungen hat Günter Grass die neue, ja revolutionäre Ostpolitik von Willy Brandt begleitet und vor allem auch befördert. Analog agierte Rolf Hochhuth. „Nur“ mit der Kraft seines Wortes im Roman „Eine Liebe in Deutschland“ fegte er den ehemaligen Nazi-Marinerichter Filbinger, der mit seinen Urteilen noch in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges junge deutsche Soldaten, die diesen verfluchten Krieg nur satt hatten, zu Tode brachte, vom Stuhl des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg.

Dieses und einiges mehr fiel dem Rezensenten beim Lesen des jüngsten Delius-Buches ein. Und er freute sich über die Revitalisierung dichterischer Zeitgeistcourage. Die ist mehr als überfällig. Denn das fiktive Szenario von Friedrich Christian Delius über den Eigentümerwechsel der Lieblingsinsel aller Deutschen ist unter denen, die nicht nur uns in den hiesigen Breitengraden, sondern die gesamte Schöpfung sehr real bedrohen, die mit Abstand harmloseste Variante.

Fehler der „großen Politik“ entfalten sich vor Ort als Katastrophe

Meine professionellen Kritikerkollegen werden mir, dem Amateur, bitte verzeihen, wenn ich über sie nur mein ältliches Haupt schütteln kann. Wie kann man denn auf die abartige Behauptung kommen, der Delius habe das Buch nur geschrieben, um seinen Altersfrust über eine aus den Fugen geratene Welt loszuwerden?

Warum ich Ihnen, hochverehrte Leser, ausgerechnet das neueste Deliuswerk in meinem neuen Kommunalblog empfehle? Weil es ein zutiefst kommunales Buch ist. Natürlich auch deshalb, weil die besagte Insel im Landkreis Vorpommern-Rügen liegt. Aber auch, weil die durch staatliches Versagen in Deutschland verluderte Infrastruktur dort ein Thema ist, was ich gern per Zitat belege: „Je mehr ich mich (als Redakteur a. D. – Anm. des Rezensenten) innerlich von meiner Zunft verabschiede, desto mehr sehe ich die Lücken, die Schlaffheit unserer kritischen Kommentare. Zum Schluss wäre ich gern noch einmal Bahnreporter. Großes Chaos bei der Bahn, vor allem auf der neuen Prestigestrecke Berlin – München. Zu viel Elektronik. Das System implodiert. Und im Angeberland Bayern haben sie am wenigsten getan zur erfreulichen Beschleunigung. Alle Zeitungen, alle Medien in routinierter, berechtigter Häme. Aber kaum jemand wagt es die Verkehrsminister, niemand wagt es die Kanzlerin dafür verantwortlich zu machen. Sie bestimmt schließlich seit vierzehn Jahren die Richtlinien, auch bei Eisenbahnlinien. Wenn man sich immerzu lobbygestützte Autominister holt, noch dazu aus Bayern, und viel zu wenig in die Bahn investiert (die Österreicher dreimal, die Schweizer sechsmal so viel wie wir pro Einwohner) müssen sich die Leute nicht wundern. Aber sie wundern sich und schimpfen über „die Bahn“, und die Medien höhnen über „die Bahn“, aber in diesem Kontext nie über „die M.“ und „den Ramsauer“, „den Dobrindt“.

Und zu guter Letzt empfehle ich das Buch Ihrer geschätzten Aufmerksamkeit auch deshalb, weil sich die vielen schlimmen Fehler der „großen Politik“ – und die sind das Generalthema des Buches von Delius, das man auch Abrechnung nennen könnte – immer vor Ort, in den Kommunen, als Katastrophe entfalten.

Rezensent: Michael Schäfer
Friedrich Christian Delius: Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich
Rowohl – Berlin Verlag
1. Auflage 2019
ISBN 978-3-7371-0076-2
www.rowohlt.de

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