Zweimal 1967, zweimal ostdeutscher Geburtsort! Aber Null Übereinstimmung!
Dirk Oschmann, geboren 1967. In Gotha, Bezirk Erfurt, in der DDR. Heute Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig. Sein Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ steht seit Wochen auf der Bestsellerliste des SPIEGEL.
Ilko-Sascha Kowalczuk, geboren 1967. In Berlin-Ost, der DDR-Hauptstadt.
Von 1990 bis 1995 studierte er Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Promoviert wurde er 2002 an der philosophischen Fakultät der Universität Potsdam. Seit 2001 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter in der Abteilung Bildung und Forschung beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (jetzt Bundesarchiv). Vor diesem Hintergrund arbeitet der Historiker vor allem zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und hat er auch das Oschmann-Buch gelesen. Vielleicht aber auch deshalb, weil seine Frau, Susan Arndt, wie Oschmann Literaturprofessorin ist. Und mit ihm und ihrem Gatten den Geburtsjahrgang 1967 und einen Geburtsort in der DDR, konkret Magdeburg, gemeinsam hat. Seit 2010 ist sie Professorin für englische Literaturwissenschaft und anglophone Literaturen an der Universität Bayreuth.
Gelesen hat Ilko-Sascha Kowalczuk den Oschmann-Bestseller auch für den Berliner „Tagesspiegel“ (Tagesspiegel, 9. Mai 2023, Berlin, S. 30/31). Der sieht sich als „Leitmedium“ (Verlagswerbung) der deutschen Hauptstadt. Für dessen Feuilleton hat er gleich drei Werke zur DDR und den Osten vorgestellt. Gefallen hat ihm nur eines: „Jena Paradies“ von Peter Wensierski.[1] Um es zu loben reicht ihm ein Absatz mit 15 Zeilen. Endend mit einem „1er“-Fazit: „Das Buch ist spannend wie ein Krimi, erhellend und aufklärend über den Diktaturalltag wie beste Geschichtsforschung“.
Ob das zutrifft, kann ich nicht beurteilen, weil ich das Buch noch nicht gelesen habe. Gut und wichtig aber ist es, dass Peter Wensierski über das Leben eines mutigen DDR-Oppositionellen, Matthias Domaschk, der 1981 im Alter von gerade 23 Jahren unter bis heute ungeklärten Umständen im Stasiknast Gera starb, geschrieben hat.
Das zweite Werk bereitet Kowalczuk großes Unbehagen. Das verrät schon die Schlagzeile über seinem Rezensions-Trio: „Sozialismus in Pastell. Katja Hoyers substanzlose DDR-Geschichte“[2]. Der Verriss im Detail füllt eine ganze Zeitungsseite. Der Tenor: Katja Hoyer habe die DDR-Diktatur verharmlost und verniedlicht. Auch hier kann ich nicht werten, ob der Rezensent mit seiner Verdammnis Recht hat. Das ist auch nicht von Belang, den meine folgende Rezension betrifft ja das Werk von Dirk Oschmann, übrigens ein Thüringer Landsmann von mir. In Tambach-Dietharz, mitten im Thüringer Wald, habe ich meine Kindheit und Jugend verbracht, zwanzig Kilometer von Oschmanns Geburtstort Gotha entfernt.
Mit diesem Autor ist Kowalczuk ebenso schnell fertig wie mit Katja Hoyer. Wenn ich die Fundamentalkritik teilen würde, könnte ich mir meine Rezension sparen und müsste nur die folgenden Zeilen von Kowalczuk übernehmen.
Ich teile den Schredder-Verriss a la Denis Scheck aber ausdrücklich nicht. Sie bekommen ihn aber natürlich zu lesen. Nicht zuletzt deshalb, weil meine Rezension auch eine Antwort darauf ist. Urteilen müssen Sie am Ende selbst. Und ja, Sie sollten dazu nicht nur meinen Text lesen, sondern hernach auch das Oschmann-Buch. Auch wenn sie den dort getroffenen Aussagen nicht zustimmen – Lesevergnügen kann ich auf jeden Fall versprechen.
Der Autor urteilt nämlich nicht nur ex cathedra über Neuere deutsche Literatur, er kann auch selbst – für Professoren generell keine Selbstverständlichkeit – verständlich, anschaulich und an etlichen Stellen auch richtig packend schreiben. Zudem hat er für sein Buch nicht nur viele Quellen ausgewertet, er hat die Dinge leibhaftig erlebt!
Lesen Sie jetzt, was Ilko-Sascha Kowalczuk über Dirk Oschmanns Buch schreibt:
„Nichts in diesem Buch ist neu – neu ist nur der aggressive, undifferenzierte Ton des Leipziger Literaturwissenschaftlers, der sich mehr als 30 Jahre abgeduckt hat, um Karriere machen zu können. Er ist nicht die Lösung, sondern Teil des ostdeutschen Problems.
Oschmann baut eine neue Mauer auf: die zwischen 1989 und 1990. Während er die Entwicklung, die zur Einheit führt, nicht einmal ansatzweise in den Blick nimmt, kann er darauf aufbauend so tun, als setzte urplötzlich eine Entwicklung ein, an der einzig und allein der Westen Schuld trage.“
Zwei „Ossis“ im gleichen Alter kommen zu diametralen Bewertungen! Warum das so ist, warum es also zu diesem Thema offenbar auch unter ostdeutsch Sozialisierten sehr verschiedene Bewertungen gibt, das war nicht Gegenstand von Oschmanns Buch. Aber diese Frage ist keinesfalls peripher und verdient eine differenzierte sozialwissenschaftliche Antwort. Ich bin mir sicher, dass sie sehr hilfreich dabei sein wird, die Klischees über den Osten zu beerdigen. Wie tief sie sitzen, konnten wir erst kürzlich beim Springer-Vorstandschef und Konzern-Mitinhaber Mathias Döpfner nachlesen: „Die ossis sind entweder Kommunisten oder faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig“. Da es kein „dazwischen gibt – da würde ich mich gern einordnen – existiere ich für Döpfner auch nicht. Ich schreibe trotzdem eine Rezension. Ich vermute, Mathias Döpfner hat mir nach gründlicher Analyse den einzigen freien Platz in einem per se nicht vorhandenen Areal reserviert. Ich nehme das in großer Dankbarkeit zur Kenntnis, denn natürlich bin auch ich, schon wegen der Geburt im „falschen“ Teil Deutschlands , nicht frei von Schuld.
Wer den ersten Absatz der gerade zitierten Kowalczukschen Kolumne liest, kann sie nur so verstehen, dass der Autor von „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ jahrzehntelang Kreide „gefressen“ haben muss, um in vollen Zügen die Vorteile der freiheitlich-demokratischen Grundordnung für die eigene Karriere zu nutzen. Nunmehr, im unkündbaren Status eines Universitätsprofessors, „kotzt“ er jetzt all‘ den Frust aus, den er von 1990 bis 2022 in sich hineinfressen musste. Das ist meine pointierte „Übersetzung“ der Zeilen von Kowalczuk. Deshalb so pointiert, weil der so tut, als ob er Oschmann beim Mausen erwischt hat.
Aber selbstredend ist Ilko-Sascha Kowalczuk schon wegen seiner Doppelexistenz als Wissenschaftler und Mitarbeiter einer auch politisch relevanten Einrichtung wie dem Bundesarchiv zu 100 Prozent objektiv und zudem völlig unbestechlich.
Deshalb „nutzt“ es Dirk Oschmann rein gar nichts – der Verriss ist die beste „Bestätigung“ – dass er auf Seite 153 seines Buches folgendes lobend schreibt: „Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass in den letzten Jahren die zweifellos wichtigsten Bücher zur innerdeutschen Frage von Ilko-Sascha Kowalczuk, Jahrgang 1967, und Steffen Mau, Jahrgang 1968, geschrieben wurden, nämlich Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde (2019) und Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft (2019)“.[3]
Dazu von mir folgende Anmerkung: Ich hätte mich gefreut, wenn Oschmann „die für mich wichtigsten Bücher“ geschrieben hätte. Warum? Weil er sein so überzeugendes Manifest gegen eine usurpierte Deutungshoheit ein wenig konterkariert, wenn er „absolute Wahrheiten“ verkündet. Aus meiner – analog zu Oschmann – subjektiven Sicht würde ich in diesen Kanon Wolfgang Englers „Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land“ – erst recht in der erweiterten Auflage aus dem Jahr 2019 – aufnehmen und natürlich auch „Die Ostdeutschen als Avantgarde“ (2002). Weil vielleicht die Zeit noch nicht reif war, und natürlich auch dem „König Zufall“ geschuldet, wurden beide Titel nicht zum Bestseller wie Oschmanns Werk. Ich habe beide Bücher mit großem Gewinn gelesen, mich dazu lange und mehrfach mit dem Verfasser ausgetauscht, und meine Wertung ist die, (natürlich aus meiner subjektiven Warte) dass sie den Bestseller-Status ebenso verdient hätten: Profunde Analysen, ihrer Zeit voraus, im besten Sinne Vorläufer der Streitschrift von Oschmann.
Zurück zu Kowalczuk: Natürlich hat er Oschmann nicht beim Mausen erwischt. Denn dieser hat genau das von Kowalczuk kritisierte Verhalten auf Seite 188 seines Buches beschrieben und vor allem auch begründet. Zunächst schildert er zutreffend, dass der vom Westen geprägte Diskurs über den Osten jeden der dort Sozialisierten dazu zwingt, sich zu verteidigen. Dafür gäbe es nur zwei halbwegs akzeptierte Varianten: erstens die explizite Kritik und Distanzierung dieser Herkunft und zweitens die Selbstdemütigung durch vorauseilende Ironisierung. Jeder andere Modus werde als illegitim oder anmaßend empfunden. „Da ich jedoch“, so Oschmann in bemerkenswerter Ehrlichkeit, „diese beiden Kunststücke der Assimilation schon oft erfolgreich vorgeführt habe und nicht zuletzt dadurch in meine jetzige, zweifellos komfortable Position gelangt bin, werde ich das nicht wieder tun“ (Oschmann, Dirk: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, Ullstein, Berlin, 2023, S. 188).
Wenn jemand so freimütig „mea culpa, mea culpa“ ruft, ist „Nachtreten“ mindestens unsportlich. Wenn Sie Oschmanns Buch bis zum Ende gründlich lesen oder schon gelesen haben, kennen sie auch dessen mit vielen Fakten belegte Kernaussage: Wenn die Beschreibungs- und Deutungshoheit über den Osten ein westdeutsches Monopol ist, dann gibt es für eine halbwegs geduldete und partiell sogar erfolgreiche Existenz in der seit 1990 neuen BRD, die aber die alte ist, für einen Ossi letztlich nur die Vier-D-Methode: Defensive, Duldung, Demut, Dankbarkeit[4].
Ergo kann der Ostmensch doch im Regelfall erst dann aus der Deckung kommen, wenn er unter seine bürgerliche Existenz in Deutschland ein abschließendes Häkchen gemacht hat, also nach Kanada ausgewandert ist, oder seine Isomatte im Großraum Bahnhof Zoo in Berlin ausgelegt hat. Variante zwei – man hat es geschafft, kann zwar noch beschimpft, aber nicht mehr existentiell gefährdet werden – trifft für Dirk Oschmann zu. Angesichts der Verstetigung des von ihm beschriebenen westgemachten Dilemmas kommt er zu dem Schluss, dass diese Situation mit klaren Worten pointiert beschrieben werden muss und nicht mehr im siebenten Nebensatz versteckt werden darf. Genau das hat er getan. Die Contenance hat er an keiner Stelle verloren. Dieses Testat stelle ich ihm aus. Wenn man die wenigen Sätze von Kowalczuk gelesen hat, müsste man aber das Gegenteil annehmen.
Wenn ich gerade vom „Regelfall“ schrieb, dann muss es davon auch Ausnahmen geben. Darauf muss ich der Redlichkeit willen hinweisen. Ja, viele der Oschmannschen Erfahrungen habe auch ich gemacht. Am eigenen Leibe, als naher Beteiligter oder entfernterer Beobachter. Aber ich hatte auch das Glück, in den nunmehr 33 Jahren meiner erwachsenen Existenz im wiedervereinigten Deutschland westdeutsche Landsleute zu treffen, die mir von Anfang an mit Respekt und Anstand begegnet sind. Das klingt banal, aber nur diese Haltung hat das Potenzial, sich radikal von Klischees und Vorurteilen zu trennen, und gemeinsam ans Werk zu gehen. Ich habe seit der sogenannten „Wende“ nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich die bewusste Existenz in zwei grundverschiedenen Gesellschaften als Privileg, ja unter den gegebenen Umständen fast als göttliche Gnade empfunden habe und empfinde. Die gerade skizzierten Gesprächspartner aus dem Westen – einige sind mir zu guten Freunden geworden – haben das genauso gesehen, und in diesem Sinne genoss ich zum Oschmann-Thema für sie auch Autorität. Wenn solche seltenen Ausnahmen eintreten, dann und nur dann, ist die Deutungshoheit mit ihrem Latein am Ende.
Als das hier in Rede stehende Oschmann-Buch erschien, habe ich in einige Exemplare „investiert“ und an Adressaten mit „westdeutschen“ Postleitzahlen geschickt. Einer davon hat es postwendend, komplett und gründlich in anderthalb Tagen gelesen und viele Anmerkungen gemacht. Die so markierten Seiten erfuhren dank seines großen E-Mailverteilers eine bemerkenswerte Verbreitung, vor allem in den westdeutschen Bundesländern. Ein sehr erfreulicher Effekt, denn laut Oschmann geht sein Buch im Osten deutlich häufiger – 80 Prozent der Auflage – über die Ladentheken der Buchhandlungen. Wirkung aber sollte es doch in erster Linie im Westen entfalten.[5]
Lob für den Autor, Reflektionen des Rezensenten
Die nahezu vollständige Übereinstimmung des Rezensenten mit dem Buchautoren Oschmann ist ein ernstes Hemmnis beim Werden meines Textes. Glücklicherweise fiel mir rechtzeitig der folgende Vierzeiler von Gotthold Ephraim Lessing aus einen „Sinngedichten an den Leser“ ein: „Wer wird nicht einen Klopstock loben? // Doch wird ihn jeder lesen? Nein! // Wir wollen weniger erhoben // und fleißiger gelesen sein.“[6]
Also Schluss mit dem Oschmannlob. Zumal ich gleich mehrfach befangen bin: Die Thüringer Landsmannschaft in Gotha und Umgebung, die gemeinsame universitäre Heimat in Leipzig – dort wo er heute Professor ist, habe ich in den siebziger Jahren studiert und wurde später auch promoviert – und schließlich viele gemeinsame Erfahrungen aus dem akademischen Betrieb nach 1990.
Um also dem per se absurden Verdacht auf Kumpanei kein Argument zu geben (ich bin mit Oschmann zudem nicht verwandt, noch verschwägert, ich kenne ihn auch nicht), mache ich den geneigten Leser dieser Zeilen auf einige Aspekte aufmerksam, die mir bei der Lektüre von „Der Osten……“ besonders wichtig waren. Ganz sicher eine subjektive Auswahl – kein Leseersatz, aber hoffentlich für Sie ein Leseanreiz.
Ganz am Anfang des Buches zitiert Oschmann Arnulf Baring. Der westdeutsche Jurist und Publizist war langjährig Stammgast in den einschlägigen deutschen Talkshows und hat dort seine Meinung mit einigem Erfolg so artikuliert, dass sie zu etlichen Themen fast Staatsdoktrin wurde. Das folgende Zitat stammt aus einem Gespräch, das 1991 der Verleger Jobst Siedler mit ihm führte. Dort beschrieb Baring die Ostdeutschen wie folgt: „Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt. Jeder sollte nur noch ein hirnloses Rädchen im Getriebe sein, ein willenloser Gehilfe. Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal. Sein Wissen ist auf weite Strecken völlig unbrauchbar. Viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwendbar. Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktwirtschaft einbringen könnten“ (Oschmann, a. a. o., S. 20/21).
Ich kannte diese unseligen Sätze, hatte sie gleich nach deren Veröffentlichung gelesen und schäme mich auch heute nicht böser Pläne, die sich in meinem friedlichen Hirn zwar breitmachten aber nie umgesetzt wurden. Selbst am 19. Mai 2007 nicht. An diesem Tag war ich in Berlin Zuschauer der legendären elfstündigen Inszenierung von Peter Stein – unter anderem mit Klaus Maria Brandauer und Jürgen Holtz – aller Teile von Schillers Wallenstein. Neben mir – König Zufall hat’s gerichtet – saß besagter Baring. In der ersten Pause sprach ich ihn – ich konnte nicht anders, aber blieb ruhig und höflich – auf dieses Interview an. Ich zitiere aus dem Gedächtnis seine Antwort: „Ja, ich sehe das auch heute noch so. Im übrigen aber bin ich hier, um den Wallenstein zu schauen. Da habe ich keine Lust auf ostdeutsche – Sie sind doch Ostdeutscher!!! – Larmoyanz“.
Dass Baring sich 1991 so unsäglich und unter Leugnung aller Realitäten, aber wissend um seine Deutungsmacht, zu 17 Millionen Menschen geäußert hat, die gerade „beigetreten wurden“, ist ein Skandal. Ich kenne leider keinen steigernden Begriff zur Bewertung der noch unsäglicheren Tatsache, dass er 16 Jahre später noch immer der Auffassung war, dass sein damaliger Befund richtig war. Letztlich belegt mein Zeitzeugnis die These Oschmanns von der katastrophalen realitätsfremden Stabilität des vorherrschenden westdeutschen Meinungsbildes.
Sie haben meine Bekundung in Erinnerung, dass ich mich mit meinen Erfahrungen in zwei Systemen für privilegiert halte. Oschmann konkretisiert diesen praktisch basierten Erkenntnisstatus für das Thema Demokratie. Dies im Kontext mit der westdeutschen Behauptung, dass wir Ossis nur eingeschränkt demokratiefähig seien, weil wir nur über Diktaturerfahrungen verfügen und davon geprägt (gemeint ist eher deformiert) seien.
„Der Osten“, so Oschmann, „hat nicht nur diese Diktaturerfahrung, sondern ganz im Gegenteil, er hat ein Vielfaches an politischer Erfahrung: Diktaturerfahrung, Revolutions- und Umsturzerfahrung, dann Erfahrungen in Basisdemokratie und schließlich Erfahrungen mit der gegenwärtigen Spielart der Demokratie als Postdemokratie…..Das begreift der Westen aber nicht, denn er hat kurzentschlossen die Selbstbefreiung des Ostens als Sieg des Westens interpretiert. Und zweitens macht der Osten seit 1990 die Erfahrung, von der wirklichen Gestaltung und Mitgestaltung dieser Demokratie im Grunde ausgeschlossen zu sein, weil es zwar formale, reell aber nur wenige Chancen auf Teilhabe, Repräsentativität, Einstieg oder gar Aufstieg in gesellschaftlich relevante Teilsysteme gibt, von Macht, Geld und Einfluss ganz zu schweigen. Dem Osten unter dieser Prämisse Demokratiefeindlichkeit vorzuwerfen, ist nicht nur zynisch, sondern folgt obendrein einem seit Jahrhunderten eingeführten Herrschafts- und Diskursmuster, mit dem der westliche Kolonialismus verschiedener Couleur seine Hegemonie zu begründen sucht……Bis 1989 war man im Osten durch Besatzung und Diktatur entmündigt und eingeschlossen, seit 1990 wird man im Osten vom Westen entmündigt und ausgeschlossen“ (Oschmann, a. a. o., S. 94/95, 121).
Mit Blick auch auf die eigene Biografie scheint mir die Forderung von Oschmann sehr wichtig, endlich zu differenzieren in welchem Lebensalter und mithin mit welchen Erfahrungen die Ostdeutschen in die neue Ordnung kamen. „Bereits ein Jahr jünger oder älter konnte einen Unterschied ums Ganze bedeuten, konnte Möglichkeiten eröffnet oder schon vernichtet haben“ (Oschmann, a. a. o., S. 152/153).
Sein Unterkapitel 8.1 hat Dirk Oschmann mit „Löschung des Textgedächtnisses“ überschrieben. Daraus sei folgender Absatz zitiert: „Mit Frank Schirrmacher von der FAZ, Karl-Heinz Bohrer vom Merkur und Hajo Steinert von der Weltwoche weiß er (gemeint ist Ulrich Greiner von Die ZEIT – Anmerkung des Rezensenten) sich darin einig, dass die Literatur der DDR und insbesondere die Werke von Christa Wolf nichts weiter seien als Gesinnungsästhetik ja Gesinnungskitsch, konkret eine Verbindung von Idealismus und Oberlehrertum, bei dem moralische Fragen das Ästhetische unter sich begraben hätten. Dessen habe sich zwar auch die bundesdeutsche Literatur besonders im Umfeld der Gruppe 47 schuldig gemacht, aber in der DDR sei es der Regelfall gewesen, mit Christa Wolf in seiner schlimmsten Ausprägung“……Greiner & Co. haben in diesem deutsch-deutschen Literaturstreit ganze Arbeit geleistet, sofern die Literatur der DDR sich von diesem Schlag nie erholt hat. Das zeigen deutlich die Lehrpläne an den Schulen und die Vorlesungsverzeichnisse an den deutschen Universitäten….Die Literatur der DDR führt hier nur ein Schattendasein, sofern sie über Brecht und Heiner Müller hinaus überhaupt vorkommt. Das Textgedächtnis wurde auf diese Weise erfolgreich beschädigt, wenn nicht gar gelöscht“ (Oschmann, a. a. o., S. 156/157).
Da Marcel Reich-Ranicki bei dieser DDR-Literatur-Beerdigung durch selbsternannte Deutungs-Gurus leider schon im (Literatur)-Himmel weilte – er war bekanntlich ein geradezu leidenschaftlicher Verehrer von Christa Wolf – musste Dirk Oschmann deren Ehre retten. Auch das macht sein Buch so wichtig.
Wie Recht mein Thüringer Landsmann mit seiner Darstellung hat, illustriert die folgende von mir im Jahr 2020 erlebte Begebenheit: Ein ernsthaftes gesundheitliches Problem führte mich nach einem „Geheimtipp“ und vorheriger Odyssee durch diverse Arztpraxen zu einem „Medizinmann“, angesiedelt an einer noblen Adresse im Westteil Berlins. Im feinen Wartezimmer erspähte ich an prominenter Stelle eine kleine Plastik. Die modellierte Dame war mir sofort ebenso geläufig wie der in der Bronze verewigte Vers: Ein Vierzeiler aus einem Gedicht von Eva Strittmatter über deren modellierten Kopf. Das passte für mich nicht zum Standort der Arztpraxis. Diesem Sachverhalt galt deshalb meine erste Frage, die ich an den Arzt beim Eintritt ins Behandlungszimmer richtete. Nach dem ersten Satz seiner Antwort habe ich ihn mit seinem leichten, aber unverkennbaren Dialekt zutreffend im deutschen Osten verortet. Es folgte ein längeres Gespräch über DDR-Literatur im allgemeinen und Eva und Erwin Strittmatter im Besonderen. Die Assistentin war mit ihren Hinweisen auf die längst überschrittene Zeitdauer meiner Audienz recht lange chancenlos. Die Pointe ist schnell erzählt. Der Mediziner – in seinem Fach , der Zahnimplantologie, nach anerkannten Evaluierungen in Deutschland einer der besten an vorderer Stelle – residierte an besagtem Ort schon etliche Jahre. Ich war der erste (und blieb es, was ich weiß, weil ich seitdem öfter kam), der nach der Plastik und Eva Strittmatter fragte. Über die Gründe kann ich nur mutmaßen: Erstens „verirren“ sich vermutlich wenige „Ossis“ so weit in den Nobel-Kiez im „Westen“, und zweitens werden sich die Bildungsbürger mit westlicher Prägung hüten danach zu fragen, weil sie damit dokumentieren würden, dass sie Eva Strittmatter nicht kennen.
Was wiederum belegt, wie zutreffend folgende Bestandsaufnahme von Oschmann ist: „Die DDR-Literatur, die Anfang der Neunzigerjahre in Bausch und Bogen verdammt wurde, interessiert keinen mehr. Man kennt und liest sie nicht, weil sie aus dem ehemaligen Osten kommt und deshalb nichts wert sein kann. Als würden Texte, um nur wenige Beispiele zu nennen, von Franz Fühmann, Jurek Becker, Christa Wolf, Günter de Bruyn, Brigitte Reimann, Irmtraud Morgner, Heiner Müller, Volker Braun, Christoph Hein, Johannes Bobrowski oder Inge Müller nicht zur deutschen Nachkriegsliteratur gehören, als könnten sie es nicht aufnehmen mit der bundesdeutschen Literatur zwischen 1945 und 1989, als seien hier keine relevanten Einsichten in die conditio humana zu gewinnen. Wer behauptet, das sei nichts weiter als gesinnungskonforme Staatskunst, hat vielleicht eine Agenda, aber er hat keine Ahnung, weder vom Staat noch von der Kunst“ (Oschmann, a. a. o., S. 160).
Der Rezensent merkt dazu an: Erstens, in der gegenseitigen Rezeption gibt es eine bemerkenswerte Ost-West-Disparität. Nicht nur ich, sondern fast alle Ostdeutschen, die ich kenne, haben Günter Grass, Martin Walser, Wolfgang Borchert und…………..Heinrich Böll[7] gelesen. Mit letzterem habe ich die westdeutsche Nachkriegszeit überhaupt erst auch mental verstanden. Aber im Umkehrschluss ist die Ignoranz der westdeutschen „Leseratten“ ebenso unübersehbar wie fatal. Hätten diese Bildungsbürger – wieder folgen nur exemplarisch, aber auch willkürlich wenige Namen und Titel – Franziska Linkerhand (Brigitte Reimann), Der geteilte Himmel (Christa Wolf), aber auch die im Kanon von Oschmann aus meiner Sicht leider vergessenen Ole Bienenkopp (Erwin Strittmatter), Spur der Steine (Erik Neutzsch) oder Die Abenteuer des Werner Holt (Dieter Noll) gelesen, wüssten sie, warum wir Ostdeutsche so sind, wie wir sind, und auch welche Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit wir in der DDR erlebt und oft auch verflucht haben.
Soweit eine natürlich subjektive und weithin unvollständige Niederschrift von für mich bemerkenswerten Fundstellen aus meiner Oschmannschen Lektüre.
Bevor ich diesen Text beende, möchte ich eine für mich ganz wichtige Anmerkung des hier schon genannten westdeutschen Freundes loswerden, der nach eigenem Lesen viel getan hat, um das Buch von Dirk Oschmann gerade auch unter die westdeutschen Leute zu bringen. Er fragte mich, warum die ostdeutschen Frauen und Männer in diesem bemerkenswerten Werk kaum eine Rolle spielen, die im Wettstreit mit der nahezu übermächtigen und westdeutsch dominierten Wirtschaft ihren Hut in den Ring geworfen haben? Woher nahmen sie diese Kraft und dieses Selbstbewusstsein? Wer von ihnen hat gewonnen, wer verloren? Und warum? Gehören die Gewinner deshalb jetzt dazu, oder haben sie mit dem Status des „blinden Huhns, das – sehr selten – auch ein Korn findet“ maximal die Anerkennung als Exot erfahren?
Ja, dieses Thema bleibt weitgehend unbelichtet. Das ist bei der sichtbaren Intention des Buches kein wirklich kritikwürdiges Manko. Aber der Gegenstand ist keineswegs peripher. Das wiederum zeigt Oschmann mit seiner zutreffenden Darstellung der gravierenden Ost-West- Einkommens- aber noch viel mehr der Eigentumsdisparitäten.
Ich gebe zu, es juckt in meinen vier Fingern – zehnfingrig bin ich leider weder an der Schreibmaschine, noch an meiner Laptop-Tastatur geworden – für meine liebe Cheflektorin bei Springer Gabler in Wiesbaden ein Exposé zu schreiben. Denn zum Thema Ost-West bin ich schon wegen meiner Vita, aber auch durch wissenschaftliche Befassung recht kundig, und auch das Unternehmerische im allgemeinen, und im deutsch-deutsch Kontext im Besonderen ist mir geläufig. Aber vielleicht nimmt sich auch jemand des Themas an, der über größere Kompetenzen verfügt. Ein „Ossi“ aber sollte es schon sein. Spätestens seit Oschmann dürfen wir die westdeutsche Deutungshoheit nicht mehr nur beklagen. Wir müssen ihr Substantielles entgegensetzen: Objektivität in Kombination mit dem eigenen Erleben, soweit es denn zumindest unter wichtigen Aspekten auch repräsentativ ist.
Oschmann, Dirk: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, Ullstein, Berlin, 2023
(Die Rezension schrieb Prof. Dr. Michael Schäfer)
[1] Peter Wensierski: Jena Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk, Christoph Links Verlag, Berlin, 2023
[2] Katja Hoyer: Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990, Hoffmann und Campe, Hamburg, 2023
[3] Da es heutzutage zum Sport geworden ist, Texte nach Gutdünken und nicht nach bestem Wissen und Gewissen zu bewerten, sei zu diesem Absatz angemerkt, dass er die Abteilung Satire in meinem Text repräsentiert Natürlich wollte sich Oschmann mit seiner Würdigung des Buches von Kowalczuk nicht beim Autor einschleimen. Zudem hat er nicht erwartet, dass seine pointierte Aussagen nur bejubelt werden; den „Shitstorm“ in den sozialen Medien, ebenso wie in illustren Printpublikationen, und vorwiegend aus Wind- (oder besser Sturm-) richtung West, konnte er erwarten. Dass und wie er stattfand, bestätigt seine Thesen: Klischees, Vorurteile, Besserwissertum – das sind die Schwestern der von ihm erkannten, bewiesenen und angemaßten Deutungshoheit West. Repräsentiert von einer eher kleinen Zahl von Meinungsmachern und Multiplikatoren, aber leider, wie wir sehen, mit recht großer Verbreitung und Wirkung. Dass Ilko-Sascha Kowalczuk unbestechlich ist, ist wiederum keine Satire, sondern meine realistische Annahme. Das schließt aber Voreingenommenheit nicht aus……..
[4]Die „Vier-D-Methode“ ist die „Erfindung“ des Rezensenten, eines meiner Komprimate aus der Lektüre der 200 Seiten des Oschmann-Buches.
[5] Vgl. dazu: “Mit eisernem Besen abgeräumt!“, Interview mit Dirk Oschmann, Märkische Allgemeine Zeitung, 11. Mai 2023
[6] Quelle: https://beruhmte-zitate.de/zitate/129429-gotthold-ephraim-lessing-wer-wird-nicht-einen-klopstock-loben-doch-wird/
[7] Ich verzichte auf viele weitere mir geläufige Namen, denn ich muss in meinem Text nicht meine Belesenheit dokumentieren, zumal die Nennung weiterer Autoren nicht beweist, dass ich deren Bücher auch gelesen habe.
1 Kommentar zu „Zweimal 1967, zweimal ostdeutscher Geburtsort! Aber Null Übereinstimmung!“
Ich – Ossi, Jahrgang 54 – habe nach einigem Zögern das Buch von Dirk Oschmann gekauft und gelesen. Zögern deshalb, weil die Fakten schon vielfach veröffentlicht und hinlänglich bekannt sind. Natürlich weiß ich, wer die relavanten Leitungspositionen im Osten überwiegend besetzt, weiß von Seilschaften, Nichtanerkannung von Leistungen, usw.
Aber ganz so einfach ist das heute nicht mehr. „Null Übereinstimmung“ kann ich nicht unterschreiben. Ich meine, Herr Kowalczuk hat Recht, wenn er den aggressiven Ton moniert. Uns Sechzigjährigen kommen die o.g. Fakten recht schnell über die Lippen. Aber ich habe das Buch meinen Kindern, Schwiegerkindern und einigen Nichten und Neffen zum Lesen gegeben, mindestens haben wir darüber gesprochen. Ausnahmslos hat keiner die in der Rezension erwähnten Bücher gelesen, das Problem spielt in ihrem täglichen Leben keine Rolle. Die genannten Verwandten sind überwiegend knapp über 40, haben Leitungsfuktionen im Senat und im Bildungswesen, sind Professor, Sportmanager und ähnliches. Und dass ostdeutsche Männer keine westdeutschen Frauen heiraten, kann ich für meine Familie auch nicht bestätigen. Repräsentativ ist das alles sicher nicht, aber die absolute Ausnahme auch nicht. Jedenfalls hat die Beschäftigung mit dem Buch von Dirk Oschmann eher Kopfschütteln hervorgerufen. Denen ist heute egal, woher ihr Chef kommt, wenn sie nicht selbst Chef sind. Sie sehen sich nicht als blindes Huhn und „Defensive, Duldung, Demut, Dankbarkeit“ würden sie weit von sich weisen.
Trotzdem vielen Dank für die tolle Rezension. Unter dem Strich denke ich aber schon, dass sich die Sichtweise der heute Vierzigjährigen (und jünger) von der unseren deutlich unterscheidet.