Ein Gesetz und 431 Veterinärämter

Ein Gesetz und 431 Veterinärämter in den Verwaltungen der deutschen Landkreise und kreisfreien Städte

Für den Auftaktbeitrag in dieser neuen Rubrik wollte ich wissen, wieviel und welche Gesetze der Deutsche Bundesrat im Jahr 2022 beschlossen hat? Warum? Der Blog will zeigen, welche Wirkungen Bundesgesetze auf der kommunalen Ebene haben und stellt dazu folgende Fragen:

  • Hat das Gesetz überhaupt eine Relevanz für die kommunale Ebene in ihrer staatsrechtlichen Dimension?
  • Wenn ja, worin bestehen die Wirkungen des konkreten Gesetzes?
  • Welche Aufgaben müssen die Kommunen bei der Umsetzung des Gesetzes übernehmen?
  • Waren die Kommunen und ihre Interessenvertretungen (kommunale Spitzenverbände, VKU, aber auch die Gebietskörperschaften selbst) ausreichend in das Gesetzgebungsverfahren eingebunden, insbesondere dann, wenn die Umsetzung auf kommunaler Ebene für den Vollzug und die Wirksamkeit eine maßgebliche Bedeutung hat?

Für 2022, also das erste Jahr der Ampelkoalition, hatte ich die Idee für alle Gesetze eine Auswertung zu ihrer kommunalen Relevanz anhand der vier definierten Fragen vorzunehmen. Diese Idee musste ich schnell beerdigen. Auf der für eine Primärrecherche einzig maßgeblichen Internetseite, nämlich der des deutschen Bundestages (https://www.bundestag.de› dokumente› textarchiv) habe ich unter meiner Fragestellung nur eine Statistik für das Jahr 2021 gefunden. 203 Gesetze hat der Deutsche Bundestag 2021 verabschiedet, 197 davon in den 37 Sitzungstagen des vergangenen Jahres, die noch zur 19. Wahlperiode (WP) gehörten und die am 26. Oktober mit der Konstituierung des 20. Deutschen Bundestages endete. Sechs weitere verabschiedete das Parlament in den neun Sitzungstagen der neuen 20. WP.

Meine Vorstellung, dass eine solche Übersicht im Jahr 22 des 21. IT-Jahrhunderts in Echtzeit online verfügbar ist, den Namen jedes Gesetzes mit dem Datum der Beschlussfassung enthält und per Mausklick zum konkreten PDF des Gesetzestextes führt, ist im realen Deutschland eine Vision.

Natürlich gibt es alle diese Informationen. Denkbar sogar, dass man sie im Internet an vielen Fundstellen und nach langem Suchen entdeckt. Auf dieser Grundlage hätte ein noch längeres Puzzlespiel begonnen. Ein komplettes Bild, basierend ausschließlich auf Primärquellen, wäre auf diese Weise vermutlich aber nicht zustande gekommen.

Für das zu Ende gehende Jahr 2022 musste ich mich mit folgender Aussage aus einer Öffentlich-Rechtlichen Sekundärquelle begnügen: „Fast 100 Gesetze habe die Ampel in ihrem ersten Jahr auf den Weg gebracht, verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei seiner Haushaltsrede Ende November im Bundestag. Damit verteidigte er sich gegen Vorwürfe von Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU): Der warf der Ampel-Koalition „handwerklich miserables Regierungshandeln“ vor (MDR, 08. 12. 2022).

Der rettende Engel hieß nicht Gabriel, sondern Foodwatch

Eine Gesamterfassung inklusive Analyse musste ich also abhaken. Der Blogger war schon dabei, die weiße Fahne zu hissen, da kam er, der rettende Engel. In Gestalt der Verbraucherorganisation Foodwatch, und zwar am vorletzten Tag des Jahres 2022. Das Stichwort lautete „Töten männlicher Hühnerküken“. Das sollte ab dem 1. Januar 2022 in Deutschland verboten sein. Auf der Grundlage des am 20. Mai 2021 vom Deutschen Bundestag beschlossenen 6. Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL).  Damit sei – so das BMEL – Deutschland weltweit Vorreiter auf diesem Gebiet. Das Gesetz regelt ein flächendeckendes Verbot des Kükentötens und ist die Grundlage für wirksame Sanktionen.

In der Begründung formulierte das BMEL, dass sich die für die Produktion von Eiern gezüchteten Hühnerrassen aus Gründen der Wirtschaftlichkeit und der Produktqualität weniger für die Erzeugung von Fleisch eignen. Männliche Küken dieser Legerassen wurden daher bislang in den meisten Fällen nicht aufgezogen und direkt nach dem Schlupf getötet. Das BMEL hatte sich für ein Ende dieser Praxis eingesetzt. Da ein Verbot des Kükentötens nur sinnvoll ist, wenn Betriebe nicht mangels Alternativen ins Ausland abwandern, hat das BMEL seit 2008 mit mehreren Millionen Euro verschiedene Verfahren und Initiativen unterstützt, die das Töten männlicher Küken überflüssig machen. (https://www.bmel.de/DE/themen/tiere/tierschutz/tierwohl-forschung-in-ovo.html).

Zurück zu Foodwatch. Die Verbraucher- und Tierschützer hatten ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Gesetzes einfach mal untersucht, was sich denn nun geändert habe? Das Fazit war kurz und bündig: Nichts! Am 30. Dezember 2022 wurde das mit vielen anderen Jahresbilanzen öffentlich gemacht. Das Gesetz habe nicht zu mehr Tierschutz in Geflügelställen geführt. Foodwatch-Geschäftsführer Methmann sagte den Funke-Medien, dass fast neun Millionen männliche Küken in den ersten neun Monaten dieses Jahres in Deutschland geschlüpft seien. Aber niemand wisse oder wolle wissen, was mit den Tieren geschehen sei. Laut Foodwatch haben selbst die Behörden keine Ahnung, was mit ihnen nach der Geburt passiert sei. Kontrollen fänden bisher offenbar nicht statt, erklärte Methmann. Nach Angaben des in Nordrhein-Westfalen zuständigen Landesamts für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz haben mehrere Brütereien angegeben, mindestens 337 000 männliche Küken ins Ausland gebracht haben. Wie viele dann dort getötet wurden, wollte das Landesamt aus Datenschutzgründen nicht mitteilen.

(Deutschlandfunk, 30. 12. 2022).

Wenn Sie bis zu dieser Stelle gelesen habe – was ich hoffe – höre ich Ihr Raunen: „Okay, wieder eines der viel zu vielen Gesetze, über selbst die politisch weit überdurchschnittlich Interessierten längst den Überblick verloren haben, nach denen nach dem Inkrafttreten keiner mehr kräht.“

Der Blogger zwischen Depression und zynischem Sarkasmus oder neue Strophen im Stefan-Raab-Lied vom Maschendrahtzaun

Sie haben recht. Im konkreten Fall krähen nicht mal die betroffenen Hähne. Hätte das Gesetz seine Wirkung entfaltet, wären aus etlichen der bis September geborenen Küken stattliche Hähne geworden. Viele genervte Nachbarn hätten mit Messprotokollen zu den Amtsgerichten eilen können, um die Besitzer der stimmgewaltigen „Herren“ wegen des Verstoßes gegen das „Bundesimmissionsgesetz Lärm“ zu verklagen. Es hätte viele neue spektakuläre Geschichten über Nachbarschaftsstreits gegeben. Stefan Raab – Sie erinnern sich an seinen Hit mit ihm und seiner Band „Truck Stop“ zu diesem Thema, der im Jahr 2000 unter dem Titel „Maschendrahtzaun“ die deutschen Charts stürmte – hätte dazu etliche neue Stücke schreiben und unters deutsche Volk bringen können.

„Nachbarschaftsstreits“, Ihr Raunen geht weiter“, haben doch keine kommunale Relevanz im Sinne dieser Rubrik. Gemeint kann doch nicht sein, dass sich Menschen, wenn sie sich denn fetzen, doch nur in den Städten und Gemeinden austoben. Aber das kann der Schäfer doch nicht meinen?“

Sie haben zum zweiten Mal Recht. Da ich bei Beispielen der gerade geschilderten Art immer noch nicht gleichgültig sein und auf Durchgang schalten kann, pendele ich permanent zwischen Depression und einem zunehmend zynischen Sarkasmus. Hin und wider kommt wie im konkreten Fall noch der Versuch einer Satire dazu. Ob er gelungen ist, entscheiden allein Sie!

Selbstredend besteht die kommunale Relevanz des 6. Gesetzes zur Änderung der Tierschutzgesetzes vom 20. Mai 2021 schlicht und ergreifend darin, dass zu den staatsrechtlichen Ebenen des Veterinärwesens in Deutschland auch die 431 Veterinärämter gehören, die bei den Landkreisen und kreisfreien Städten bestehen. Beim Bund, im konkreten Fall beim schon mehrfach erwähnten Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, werden weitgehend nur Papiere beschrieben, die kaum keiner liest und an die sich folgerichtig auch kaum einer hält. Der Ort, wo es um Tiere – Tiergesundheit und Tierschutz – geht, trägt im BMEL einen Namen: „Unterabteilung 32“. Darauf wäre nicht mal Franz Kafka gekommen. Schade, dass Franziska Giffey jetzt in Berlin die „Regierende“ ist. Denn als vormalige Bundesfamilienministerin hat sie ihre Kreativität beim Erfinden von Gesetzesnamen bewiesen. Sie erinnern sich zum Beispiel an das Gute-Kita-Gesetz. Wäre Frau Giffey 2021 Bundesministerin für Landwirtschaft und Ernährung gewesen, hätte das 6. Änderungsgesetz wahrscheinlich den Namen „Küken-Männer-ohne Leid-Gesetz“ getragen…..

„Namen sind Schall und Rauch“. Aber, dass Gesetze angewendet werden müssen, sollte real sein. Auf der Länderebene politisch dafür verantwortlich sind die Minister für Landwirtschaft der Flächenländer.

„Es gibt keinen Aufwand bei den Kommunen. Basta!!!“ Aber dafür ist Deutschland wie immer weltweiter Vorreiter

Politisch verantwortlich und praktisch zuständig. Dazwischen liegen Welten.

Praktisch zuständig dafür, dass z. B. mit den männlichen Küken genau das passiert, was seit dem 1. Januar 2022 im Gesetz steht, sind die Landkreise und kreisfreien Städte mit ihren insgesamt 431 Veterinärämtern. Die sind als untere Veterinärbehörde vor Ort die Exekutive. Laut Foodwatch aber haben sie beim Thema Küken-Tötungs-Verbots-Gesetz keine Ahnung, was seit Januar 2022 tatsächlich mit den Tieren passiert. Ob das wirklich durchgängig so ist, dafür müsste im Zweifelsfalle Foodwatch die Belege liefern. Aber diese Verifizierung ist gar nicht mein Thema.

Ich stelle für mein konkretes Beispiel aber folgendes fest:

  • Der Bundesrat als Länderkammer hat dem 6. Änderungsgesetz zugestimmt, denn es gibt die genannten Zuständigkeiten der Länder
  • Diese Zuständigkeit betreffen ganz konkret die genannten kommunalen Gebietskörperschaften.
  • Für die hat der Bundesrat 2021 festgestellt, dass sich aus dem Gesetz keine zusätzlichen Aufwände ergeben. Dazu fällt mir wahrlich nichts mehr ein. Ein so gravierendes Verbot wieder eine seit vielen Jahrzehnten geübte Praxis erfordert doch die Implementierung völlig neuer und engmaschiger Kontrollmechanismen. Das weiß selbst ich als Laie im deutschen Veterinärwesen. Ich muss dazu nur meinen gesunden Menschenverstand anwenden und eins und eins zusammenzählen.
  • Die also letztlich zuständigen kommunalen Behören saßen in besagter Bundesratssitzung wie immer nicht am Tisch. Wenn, dann hätten die Landräte und Oberbürgermeister heftig interveniert. Und darauf hingewiesen, dass ihren Behörden eine neue große Aufgabe und Verantwortung übertragen, diese aber nicht finanziert wird. Warum auch? Es gibt ja gar keine zusätzlichen Aufwände, siehe Punkt 3.
  • Jahrzehntelang kämpften im Deutschen Bundestag eine Handvoll Abgeordneter mit kommunal-genetischer Codierung um die Etablierung eines Kommunalausschusses mit uneingeschränkten Rechten, die kommunalen Belange bei allen Gesetzgebungsverfahren vollumfänglich – also nicht nur folgenlosen Anhörungsmöglichkeiten – zu vertreten. Ein einziges Mal, in der 18. Wahlperiode, „gelang“ der Rohrkrepierer „kommunaler Unterausschuss“ als Teil des Innenausschusses. Da er keine Rechte hatte außer dem der Anhörung hatte, blieb die „Veranstaltung“ folgenlos. Wie gewünscht. Denn damit war „bewiesen“, dass niemand eine handlungsfähige kommunale Instanz braucht. Auf den Internetseitenseiten des Deutschen Bundestages zur 18. Wahlperiode 2013 – 2017 ist zu diesem Unterausschuss folgendes nachzulesen:

Der für die Dauer der 18. Wahlperiode eingesetzte Unterausschuss beschäftigt sich mit dem Querschnittthema Kommunalpolitik. Da Bundesgesetze unter Umständen auch erhebliche finanzielle Folgewirkungen für die Kommunalebene haben können, ist  es vornehmliche Aufgabe des Unterausschusses, beabsichtigte Festlegungen in ihren  Auswirkungen auf die Kommunen zu überprüfen, die ressortübergreifenden Aspekte zu bündeln und die Beratungen im Innenausschuss zu unterstützen. Auch haben kommunale Spitzenorganisationen nunmehr einen originären Ansprechpartner.

https://www.bundestag.de/webarchiv/Ausschuesse/ausschuesse18/a04/kommunales

Lassen Sie sich bitte die Sequenz auf der Zunge zergehen, dass Bundesgesetze unter Umständen auch erhebliche finanzielle Folgewirkungen für die Kommunalebene haben können.

„Unter Umständen“ und dann folgt auch noch der Konjunktiv! Entlarvend! Aber so sehen das Bund und Länder, jedenfalls die meisten, die dort Verantwortung tragen. Das habe ich Ihnen beispielhaft mit dem 6. Änderungsgesetz zum Tierschutzgesetz gezeigt, das ja auf den ersten Blick mit dem kommunalen Alltag nichts zu tun hat.

Gerade deshalb stelle ich folgende Gegenthese auf: Bundesgesetze ohne erhebliche finanzielle und faktische Folgewirkungen auf die Kommunalebene sind die Ausnahme!

Deshalb bedarf es der kommunalen Mitbestimmung. Dass dies endlich praktiziert wird, dazu  will mein Blog einen Beitrag leisten. In Gänze, und besonders mit dieser neuen Rubrik.

P.S. Dieser Nachsatz muss sein. Erinnern Sie sich an die Selbstbeweihräucherung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft im ersten Teil dieses Textes: Mit diesem Gesetz sei „Deutschland weltweit Vorreiter auf diesem Gebiet.“ Denn das Gesetz regele erstmals ein flächendeckendes Verbot des Kükentötens und sei die Grundlage für wirksame Sanktionen.

Diese „Vorreiterrolle“ findet hoffentlich anderswo in der Welt keine Nachahmer. Aber so blöd kann eigentlich niemand sein.

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1 Kommentar zu „Ein Gesetz und 431 Veterinärämter“

  1. Leider trifft die Formulierung des Oppositionsführers Friedrich Merz vom „handwerklich miserablen Regierungshandeln“ in diesem Fall voll zu. Allerdings gibt es wohl mehr als nur handwerkliche Mängel anzuprangern. Der aufschlussreiche Beitrag des Autors ist nur ein Beispiel einer offensichtlich verbreiteten Einstellung von Regierung, Parlament und Bundesbehörden gegenüber kommunaler Mitbestimmung. Ich sehe darin nicht nur eine fundierte Kritik, sondern auch einen Aufruf an jeden Bürger zum aktivem Handeln.

    Persönlich bin ich froh, dass mit dem Blog die Tradition der Zeitschrift zu kommunalen Fragen fortgesetzt wird und wünsche dem Blogger eine ständig wachsende Leserschaft, die seine Ideen aufgreift und in politische Aktivität umsetzt. Eine schöne
    “ Nebenwirkung “ des Blogs: man erfährt Neues und lernt dazu.

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