Die neue Krise der Städte

Die neue Krise der Städte. Zur Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert

„Das Wohnen ist heute in mehrfacher Hinsicht zum Problemfall geworden. Das veranschaulicht der Architekt und Stadtplaner Ernst Hubeli in seiner pointierten Streitschrift, die die Wohnungsfrage für das 21. Jahrhundert neu verhandelt. Ein Problemfall ist das Wohnen in architektonischer Hinsicht. Die Vielfalt unserer Lebensentwürfe passt längst nicht mehr in den Einheitsbrei von 3-Zimmer/Küche/Bad. Vor allem aber hat der Gebrauch bzw. Verbrauch von Boden in den letzten 20 Jahren eine soziale und ökonomische Krise der Städte ausgelöst und deren Peripherien veröden lassen. In ganz Europa kauft das Großkapital Immobilien als Spekulationsobjekte auf. In Städten wie München oder Zürich, Stuttgart oder Berlin ist der Wohnungsmarkt zu einem Glücksspiel geworden, bei dem man froh sein muss, wenn am Ende ein Trostpreis winkt. Wien hat einiges besser, aber auch nicht alles richtig gemacht. Und in den USA hat der Traum vom Eigenheim auf Pump eine Schuldenkrise ausgelöst, die das globale Finanzsystem an den Kollaps geführt hat.

Doch das Recht auf Wohnen ist ein Menschenrecht, für das es zu kämpfen gilt, denn es steht mehr auf dem Spiel als nur die eigenen vier Wände. In zehn griffigen Thesen beleuchtet Ernst Hubeli den Zusammenhang zwischen Wohnen und Gesellschaft, privatem und öffentlichem Raum, Urbanität und Demokratie und zeigt anhand des aktuellen Beispiels Berlin, wie eine Stadtgesellschaft ein Grundrecht auf eindrucksvolle Weise zurückfordern kann.“

Ich zitiere aus der Pressemitteilung des Züricher Rotpunktverlages ausführlicher, als Sie es gewohnt sind, weil dieser kurze Text prägnant auf den Punkt bringt, worum es im Buch geht, und mit welchen Intentionen es geschrieben wurde. Das erspart mir eine eigene Inhaltsangabe.

Das mit Anhang gerade einmal 189 Seiten umfassende Bändchen, zudem noch in der schmalsten Taschenbuchvariante, ist nur als Paperback bzw. als E-Book verfügbar. Länge und Format passen zu einer „Streitschrift“. Ich bin auf den Titel durch die Wochensendung „Andruck“ aufmerksam geworden. Sie läuft seit vielen Jahren Im Deutschlandfunk, immer am Montag von 19.15 bis 20 Uhr, und ist für alle Freunde des politischen Sachbuches eine wahre Fundgrube. Der Rezensent hat zusammen mit Ludger Rethmann zwei Publikationen aus diesem Genre verfasst, die in diesem Jahr bei SpringerGabler erschienen sind. Deren Thema ist die „Öffentlich-Private Daseinsvorsorge“ (die Definition dieses neuen Begriffs finden Sie im Gabler Wirtschaftslexikon). Mit diesem Hinweis ist meine Affinität zum Buch von Hubeli hinreichend begründet. Denn das Wohnen hat im Kanon der Daseinsvorsorge einen zentralen Platz. Aus diesem Status ergibt sich die Verantwortung von Staat und Kommunen, sicherzustellen, dass Wohnungen in menschenwürdigen Standards auch für diejenigen verfügbar sind, die nicht zu den sogenannten „Besserverdienenden“ gehören. Aus dieser gesellschaftspolitischen Zuständigkeit folgt vor allem in den großen und größeren Städten für die Öffentliche Hand das Erfordernis, Wohnungen auch selbst zu bauen und zu bewirtschaften. Markt und Wettbewerb allein sind vielerorts nicht in der Lage, den differenzierten Bedarf zu decken. Luxusquartiere sind nun mal profitabler als Sozialwohnungen. Dass deshalb die Städte selbst ins Obligo gehen müssen, hat gerade die ersten Jahrzehnte der „alten“ Bundesrepublik geprägt. Das ist zwischenzeitlich leider in Vergessenheit geraten.

So sieht es auch Hubeli, der in seiner fünften These formuliert: „Die sogenannte bezahlbare Wohnung, die Stadtregierungen heute versprechen, ist keine karitative Angelegenheit.“ Es ist die Pflicht zur Daseinsvorsorge, müsste man ergänzen, wobei Hubeli diese Aufgabe „nicht nur auf die Opfer von Niedriglöhnen, Sozialhilfeempfänger oder Alleinerziehende“ reduziert, die anderes im Sinne hätten, als schöner und teurer zu wohnen. (S.61). Ein wichtiger und nach meiner Kenntnis auch neuer Gedanke ist der Hinweis auf das stark anwachsende Milieu „lokaler Urbanitäten“, das in vielen Städten 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht. „Das Low-Budget-Wohnen ist – so der Autor – eine Voraussetzung für eine Lebensform, die das öffentliche Alltagswohnen gegenüber dem Rückzug ins Private bevorzugt und damit Städte belebt“ (S.60/61). Diese soziologische Begründung scheint mir vor allem deshalb wichtig, weil sie öffentliche Verantwortung nicht allein auf das Ökonomische reduziert, sondern viel komplexer und vor allem auch qualitativ beschreibt. Die Reduktion nur auf das „Dach über dem Kopf“ war letztlich die Begründung, ja Rechtfertigung, für die Segration der sozial Schwächeren in die Betonbauten an den Rändern unserer Städte. Aber gewollt ist das genaue Gegenteil, nämlich Vielfalt und Durchmischung in allen Kiezen einer Stadt. Die Zahl der Menschen nehme zu – auch dies ein interessanter Einwurf von Hubeli – die weniger in der eigenen Innenwelt als in der Stadt wohnen wollten. Sie hätten deshalb kein Interesse an großen und kostspieligen Wohnungen. Kommunikativer Lebensstil also vs. unnötiger Flächenverbrauch. Solche Hinweise auf weniger beachtete Kausalitäten sind von größter Wichtigkeit. Zeigen sie doch, dass es um viel mehr geht, als Lücken zu bebauen und neue Flächen zu erschließen. Die Doppelprofession des Autors als Architekt und Stadtplaner erweist sich in dieser Hinsicht als Glücksfall.

Unter der Kapitelüberschrift „Enteignung“ befasst sich Hubeli mit den aktuellen Berliner Szenarien unter den Stichworten wie „Mietendeckel“ oder „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“. Der Autor, das macht die Lektüre gerade dieses Kapitals im besten Wortsinn spannend, stellt diese Entwicklungen von heute in einen europäischen und einen historischen Kontext. Berlin befinde sich wohnungspolitisch genau in der Mitte zwischen Dublin und Wien. Die irische Metropole stehe exemplarisch dafür, wie sich im Zuge der neoliberalen Globalisierung Konzerne widerstandslos einer Stadt bemächtigen. Wien sei dazu das Gegenbeispiel. Bereits vor hundert Jahren habe dort das gemeinnützige und städtische Eigentum den freien Markt dominiert, auch heute betrage dessen Anteil über 60 Prozent. Hubeli verweist in seinem geschichtlichen Exkurs darauf, dass Enteignungen von Wohnungskonzernen in der Weimarer Republik schlichtweg deshalb kein Thema gewesen seien, weil der Wohnungsmarkt weitgehend sozialisiert gewesen sei. Es habe eine strikte Begrenzung der Mieten gegeben. Zugleich sei massiv gemeinwirtschaftlicher Wohnungsbau betrieben worden. „Rückblickend auf diese Epoche zeigt sich, dass die Wohnungsfrage damals grundlegend andere Voraussetzungen hatte als heute. Etwas überspitzt: Der freie Wohnungsmarkt wurde nicht eingedämmt – er existierte nicht. Es war selbstverständlich, dass der Boden ein Gemeingut ist und dass Wohnen ein Grundbedürfnis darstellt“ (S. 91). Diesen Status des Bodens will Hubeli wiederherstellen. In These 9 formuliert er: „Neue Wohnformen werden in andere Stadtformen übergehen, die Bodenreformen voraussetzen“ (S. 6).

Der Autor ist politisch eher links verortet. Gleichwohl polemisiert er gegen das Attribut „sozialistisch“ im Zusammenhang mit der Berliner Enteignungsbewegung. Denn das, was in Rede stehe, sei weder ein Umsturz noch ein Angriff auf demokratische Grundordnungen. „Im Gegenteil. Es geht um Dinge, die Artikel 15 des Grundgesetzes einräumt: um Fragen nach dem Verhältnis zwischen Gemeinwohlinteressen und Geschäftsmodellen, um die Frage, ob Vergesellschaftung ein Weg zur Rettung von Gemeingütern sein könnte, ganz unjuristisch formuliert“, so Hubeli (s. 115).

Der Rezensent kommentiert wie folgt: Wer sich wirtschaftlich in der Daseinsvorsorge betätigt, muss akzeptieren, dass diese Aufgabe Priorität hat. Maximalrenditen sind dazu inkompatibel. Wer das akzeptiert, muss eine Enteignung nicht fürchten. Und wer es politisch für unangemessen oder gar zu radikal hält, privates Eigentum zu kommunalisieren, könnte alternativ über die ordnungspolitische Deckelung von Renditen für wirtschaftliche Betätigungen in allen Bereichen der Daseinsvorsorge – in erster Linie aber in jenen Segmenten, in denen es keinen oder nur eingeschränkten Wettbewerb gibt – nachdenken.

Dass die Verfügbarkeit von Wohnungen für differenzierte Bedarfe und Einkommen Daseinsvorsorge ist, kann als unstrittig gelten. Das große Verdienst des Buches von Ernst Hubeli besteht darin, dass er dazu nicht nur die ökonomischen Aspekte beleuchtet. Sein sehr komplexes Verständnis von Daseinsvorsorge führt uns in ästhetische, soziologische und kulturelle Dimensionen. Deshalb treffen wir im zweiten Teil seines Buches u.a. auf Architekten wie Bruno Taut und den Bauhäusler Hannes Meyer, den Romancier Umberto Eco oder auch den Philosophen Theodor W. Adorno. Mit seinen intellektuellen „Ausflügen“ bis in die Antike belegt er, dass die Wohnungsfrage eine allgemeingültige und eine konkret-historische Dimension hat. Das macht er sprachlich brillant und ohne jede oberlehrerhaft-akademische Attitüde. Am Ende verstehen wir zum Beispiel, was Digitalisierung und das starke Anwachsen häuslicher Berufstätigkeit (Corona ist hier weniger Ursache, denn vielmehr Katalysator) mit dem Thema „Wohnen im 21. Jahrhundert“ zu tun haben. Ich habe das Buch mit großem Vergnügen und deutlichem Erkenntnisgewinn gelesen.

Der Autor:

Ernst Hubeli, Architekt und Stadtplaner, war Leiter des Instituts für Städtebau an der TU Graz und Chefredakteur der Fachzeitschrift Werk. Seit 1982 ist er Mitinhaber des Architekturbüros Herczog Hubeli in Zürich, das Forschungen und Publikationen zu Architektur und Städtebau verfasst hat. Diese bilden auch den Hintergrund für zahlreiche Bauten, die das Büro realisiert hat.

Rezensent: Michael Schäfer

Bewertung:

Hubeli, Ernst: Die neue Krise der Städte. Zur Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert
Rotpunktverlag , Zürich
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-85869-865-0

www.rotpunktverlag.ch

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