Bismarck-Biografie

Über eine Weltsensation 1985, deren 800-seitige „Kurz“-Fassung 2014 und eine wunderbare und produktive deutsch-deutsche Freundschaft

1985. Zeitgleich erscheint in der DDR und der BRD der erste Teil der zweibändigen Bismarck-Biografie aus der Feder des DDR-Historikers Ernst Engelberg: Im Akademie-Verlag (Ost) und im Siedler Verlag (West). Eine verlegerisch-politische Sensation. Das Werk wird bis heute weltweit gerühmt und gilt als das mit Abstand wichtigste Zeugnis der Wirkens einer staatsmännischen Legende.

2015. Am 1. April wurde im nunmehr geeinten Deutschland des 200. Geburtstag des „Eisernen Kanzlers“ – Otto von Bismarck – gedacht. Wer aus diesem Anlass inspiriert wurde – Annalena Baerbock gehörte offenbar nicht dazu – sich erstmals intensiver mit einer der beeindruckendsten, aber auch widersprüchlichsten Persönlichkeiten der deutschen Geschichte zu befassen, wird die eingangs erwähnte denkwürdige zweibändige Biographie aus der Feder von Ernst Engelberg – der zweite Band erschien 1990 – vermutlich gar nicht kennen. Leider ist unsere Zeit vergesslich, und schon deshalb ist es ein großes Verdienst des Siedler-Verlages und des Herausgebers Achim Engelberg, Sohn des Verfassers, diese bis heute unübertroffene Darstellung zum Geburtstag des Staatsmannes wieder in unser Bewusstsein zu bringen.

Weil die zweibändige Edition zum 200. Bismarck-Geburtstag nicht mehr lieferbar war, hat der Sohn das vollbracht, was sich eigentlich sein Vater noch vorgenommen hatte: Die Komprimierung der mehr als 1 600 Seiten des Zweibänders zu einer kompakten Einzelausgabe. Dieses 800-Seiten-Buch erschien 2014, kurz vor dem runden Geburtstag. Das ist nun auch schon wieder fast neun Jahre her. Die spontane Idee, den Band Frau Baerbock zu schenken, habe ich sofort verworfen. Die 24 Euro für die Paperback-Variante – gebunden ist das Werk nur noch antiquarisch zu erwerben – sind zu schade, denn sie liest es ja eh nicht. Und wenn, würde sie deshalb den Bismarck-„Umzug“ nach Bonn nicht rückgängig machen……..
Ich wünsche mir sehr, dass die mediale Aufmerksamkeit, die zum Jahreswechsel 2022/23 durch den „Rausschmiss“ des Reichskanzlers aus dem Auswärtigen Amt entstanden ist, dazu beiträgt, dass sehr viele Menschen dieses „neue alte“ Buch zur Hand nehmen. Denn aus meiner Sicht ist die Lektüre auch mit Blick auf ein anderes Jubiläum von Interesse. Am 3. Oktober 2023 feiern wir 33 Jahre neue deutsche Einheit, und dies zusammen mit der Reichsgründung des Jahres 1871 zu denken, ist intellektuell ebenso herausfordernd wie inspirierend.

Obwohl sich Historiker permanent streiten, herrscht im konkreten Fall Einigkeit: Unter den gedruckten Lebensberichten zu Otto von Bismarck hat die Biografie von Ernst Engelberg den Rang eines „opus magnum“ (Peter Brandt), der diese Bewertung wie folgt begründet: „Die beiden Bände des Bismarck-Biographie sind für mich bis heute ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung, insbesondere im Hinblick auf die Verbindung von Personenbezogenem und Allgemeinhistorischem, vom Einzelereignis und Strukturellem“.

Was nutzt’s, wenn Werke von solchem Rang, Standardwerke allemal, in diesem Land in der kompletten Fassung nicht mehr verlegt werden. Ich schreibe das in im Plural, denn die Tatsache, dass solche Bücher einfach vom Markt „verschwinden“, betrifft ja nicht nur die in Rede stehende Bismarck-Biographie.

Von mir dazu nur einige knappe Anmerkungen, adressiert gerade an jene, die mit meinem Blog-Beitrag zum ersten Mal mit dem Buch von Ernst Engelberg in Kontakt kommen. Dass es ausgerechnet ein DDR-Historiker war, der 1985 mit einer Biographie über Otto von Bismarck westdeutsche und internationale Anerkennung bekam, passte überhaupt nicht ins „Weltbild“ jener, die allen DDR-Geisteswissenschaftlern das Etikett SED-Ideologiegesteuert und damit wissenschaftlich inakzeptabel verpassten. Ein zweites: Spätestens mit der Rückkehr des Reiterstandbildes Friedrich des II. auf die Straße Unter die Linden im Jahr 1980 versetzte die DDR viele in Erstaunen, die bis dato meinten, der realsozialistische Staat auf dem Boden preußischen Kernlandes reduziere jenen Teil der deutschen Geschichte auf Militarismus und Reaktion und habe diesen deshalb aus der eigenen Traditionslinie komplett ausgeblendet. Leider sind diese schwarz-weiß-Deutungen auch heute noch in aller Munde. Sie ignorieren in erschreckender Realitätsverleugnung, dass hinter der hohlen Phraseologie des SED-Staates auch Wissenschaft auf hohem Niveau gedeihen und sich entfalten konnte. Neben Ernst Engelberg darf ich unter dem Stichwort Preußen an die Biographie von Friedrich II. von Ingrid Mittenzwei erinnern, oder an Autoren wie Heinz Knobloch oder Günther de Bruyn, die in zahllosen Veröffentlichungen das Thema Preußen differenziert und kenntnisreich bearbeitet haben.

Für mich wäre es ein Glücksfall, wenn jene, die sich mit der 2014 erschienenen einbändigen Engelberg-Edition aufmachen Bismarck zu erkunden, auch meine gerade notierten Stichworte für weitere Exkursionen zur Kenntnis nehmen. Denn in die viele Freude, die ich empfinde, wenn ich an fast 33 Jahre deutsche Einheit denke, mischt sich auch Frust. Darüber, dass uns immer noch jede Menge Klischees daran hindern, vorurteilsfrei zusammenzuwachsen.

Dass der erste Band der Bismarck-Biografie von Ernst Engelberg 1985 am gleichen Tag in einem DDR- und einem BRD-Verlag erschienen, war nicht nur eine politisch-verlegerische Sensation. Sie ist auch das Zeugnis der Jahrzehnte währenden engen und höchst produktiven Freundschaft zwischen einem Historiker mit ostdeutschen und proletarischen Wurzeln und einem linksliberalen Intellektuellen aus dem Westen: Ernst Engelberg und Wolf Jobst Siedler.

Letzterer wurde 1926 in Berlin geboren. Zu seinen Vorfahren gehören u. a. der Bildhauer Johann Gottfried Schadow und der Musiker Carl Friedrich Zelter. Sein Onkel ist der bekannte Architekt Eduard Jobst Siedler. Seine Eltern waren mit Otto Hahn befreundet.

Nach seinem Studium der Soziologie, Philosophie und Geschichte an der Freien Universität Berlin arbeitete er fast zehn Jahre als Journalist, vor allem für den Berliner Tagesspiegel, die Neue Zeitung und Der Monat. Einen Höhepunkt dieser Laufbahn erlebte er mit der Berufung zum Chefredakteur des Feuilletons beim Tagesspiegel.

Gemeinsam mit dem Filmproduzenten Jochen Severin gründete Siedler 1980 den Verlag Severin & Siedler, der sich auf politische und historische Literatur konzentrierte. Genau zu dieser Zeit lernte er den ostdeutschen Historiker Ernst Engelberg kennen. Dieser wurde 1909 in einem sozialdemokratisch geprägten Elternhaus geboren. Diese Familienprägungen und das Erlebnis einer Kindheit und Jugend, überschattet von Erstem Weltkrieg, Nachkriegswirren und Inflation, führten Engelberg zum Kommunistischen Jugendverband (1928) und in die KPD (1930). Nach dem Studium der Geschichte, Nationalökonomie, Philosophie und Rechtswissenschaften zwischen 1927 und 1934 in Freiburg im Breisgau, München und Berlin, unter anderem bei Gustav Mayer, erfolgte die Promotion bei Hermann Oncken und Fritz Hartung. Thema der Dissertation war „Die deutsche Sozialdemokratie und die Bismarcksche Sozialpolitik“. Als er jedoch die Dissertation einreichte, war Mayer schon ins Exil gezwungen worden. Es war eine von sehr wenigen marxistischen Dissertationen im „Dritten Reich“. Wenige Tage nach deren Verteidigung, im Februar 1934, wurde Engelberg wegen Vorbereitung zum Hochverrat vom NS-Regime verhaftet und zu 18 Monaten Zuchthaus verurteilt. Nach Verbüßung der Strafe flüchtete er in die Schweiz, wo er als Stipendiat am Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien und Mitglied am Institut für Sozialforschung u. a. mit Hans Mayer, Hans Kelsen und Max Horkheimer zusammenkam und arbeitete. Dort war er auch für die Bewegung Freies Deutschland tätig. Obwohl er die Einweisung ins Arbeitslager schon erhalten hatte, konnte er durch Vermittlung von Horkheimer 1940 nach Istanbul emigrieren und dort als akademischer Deutschlehrer wirken.1948 siedelte er in die Sowjetische Besatzungszone über und trat im gleichen Jahr in die SED ein.

1949 wurde er Professor für die Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung an der Universität Leipzig, wo er unter anderem zusammen mit Hans Mayer, Ernst Bloch, Werner Krauß, Wieland Herzfelde, Hermann Budzislawski und Walter Markov wirkte.

Die Deutsche Akademie der Wissenschaften der DDR berief Engelberg 1960 als Direktor an das Akademie-Institut für deutsche Geschichte. Einer breiten Öffentlichkeit wurde Engelberg aber erst durch seine aufsehenerregende zweibändige Bismarck-Biographie bekannt.

1990 wurde aus dem SED-Mitglied Engelberg eines der PDS. Seitdem gehörte er dem Ältestenrat und dem Marxistischen Forums der Partei DIE LINKE, Nachfolgerin der PDS, an. Er starb 2010 im 102. Lebensjahr in Berlin.

Hier der bürgerliche Intellektuelle, da der marxistische Gelehrte. Was beide verband und zu einer ungewöhnlichen Ost-West-Freundschaft führte, war wohl in erster Linie eine Übereinstimmung im Prinzipiellen. Abstrahiert man von der Pervertierung der sozialistischen Idee, so ist dieser intellektuelle Gleichklang durchaus plausibel und auch nicht ungewöhnlich. Man denke nur an die vielen bürgerlichen Intellektuellen, stellvertretend nennen wir Thomas Mann, Bertold Brecht oder Lion Feuchtwanger, die nach dem Zusammenbruch des Nazireiches in tiefer Überzeugung zunächst in der DDR ihre Heimat sahen.

Diese reichen kulturellen bürgerlichen Traditionen prägten die DDR nachhaltig. Trotz stalinistischer Deformationen und dem schlichten Kulturverstand etlicher höchster Funktionäre. Ich empfehle dazu die Lektüre von „Die Intellektuellen“ von Werner Mittenzwei, erschienen 2001 bei Faber & Faber, Leipzig, und aktuell im Buchhandel erhältlich als Aufbau-Taschenbuch. Dennoch hält sich bis heute das Vorurteil, dass die DDR-Geisteswissenschaft eine intellektuell zu vernachlässigende SED-Apologetik war. Da passte eine Biografie eines DDR-Historikers mit eben jedem Parteibuch und dann auch noch über Bismarck einfach nicht in die Landschaft.

Glücklicherweise haben Geistesmenschen mit den Geburtsdaten von Engelberg und Siedler ihre Freundschaften auch dadurch gepflegt, dass sie sich substantielle Briefe schrieben. Achim Engelberg, der 1965 geborene Sohn des marxistischen Historikers, hat sich ebenfalls dieser Wissenschaft verschrieben. Ihm verdanken wir die Neuherausgabe der Bismarck-Biografie im Jahr 2014, und 2015 den gedruckten Briefwechsel von Wolf Jobst Siedler und Ernst Engelberg.

Ernst Engelberg: Bismarck. Sturm über Europa. Biographie, Siedler, München, 2014 /
Achim Engelberg: Es tut mir leid: Ich bin wieder ganz Deiner Meinung. Wolf Jobst Siedler und Ernst Engelberg: Eine unwahrscheinliche Freundschaft, Siedler, München, 2015

Anmerkung:
Dieser Text erschien in den Ausgaben Juni und Dezember 2015 von UNTERNEHMERIN KOMMUNE. Ich habe ihn für diese Lexikon-Fassung aktualisiert.

Der Blogger

Professor Dr. Michael Schäfer

Prof Dr. Michael Schäfer

Rubriken

Kategorien

Begriffe

Die wichtigsten Termini zum Blog – Vom Blogger für das Gabler Wirtschaftslexikon definiert und per Klick dort verfügbar!

Lexikon kommunal

Die wichtigsten Gegenstände des Blog – Vom Blogger in pointierten  lexikalischen Artikeln erläutert und per Klick erreichbar!

Nach oben scrollen